Identitäts-Intoleranz

++Dieser Artikel erschien in der Printausgabe 01/20++

„Man sah in mir etwas, das vermieden und bekämpft werden musste” – Wenn die Identität im eigenen Land nicht akzeptiert wird

Als ich das Büro von Bruno betrete, ist es draußen kalt und grau – für mich nichts Besonderes. Aber für Bruno ist das ungewohnt. Er kommt aus Recife, einer Stadt im Nordosten Brasiliens, in der es täglich fast 30 Grad sind. Das Hamburger Wetter macht ihm deshalb zu schaffen, aber das ist für ihn kein Grund, die Stadt weniger zu mögen.

Seit gut einem Jahr lebt Bruno schon hier. Momentan arbeitet der Soziologe an seiner Doktorarbeit im Bereich „Mental Disorders“. Bereits 2013 hat er im Rahmen eines Austauschprogramms knapp ein Jahr in Hamburg verbracht und war sofort begeistert von der Stadt.

Nur wenige Monate zuvor hatte sich die Lage in seinem Heimatland drastisch verändert. Das Jahr 2013 begann ruhig in Brasilien. Niemand ahnte, was in den nächsten Monaten geschehen würde, doch dann kam der Juni. Er brachte eine Welle an Demonstrationen und Protesten aller Art, etliche Leute gingen auf die Straße. Was als Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung in Bussen begann, entwickelte sich bald zu einer grundlegenden Unzufriedenheit mit der Politik in Brasilien.

Diese Unruhen hatten zur Folge, dass sich die Gesellschaft in Brasilien spaltete – was die Hoffnung vieler Brasilianer*innen auf eine baldige Beruhigung der Lage zunichte machte. Für Bruno war es einerseits ein gutes Zeichen, dass die Situation die Bevölkerung dazu anregte, sich mehr mit der Politik in ihrem Land auseinander zu setzen. Er hoffte, dass die Gesellschaft dadurch langfristig und nachhaltig politisch interessierter werden würde. Andererseits gab es mehr und mehr Spannungen um Themen wie Homosexualität, Abtreibung oder Menschenrechte, was er mit Sorge betrachtete.

Bruno ist homosexuell und setzte sich in Brasilien für die Gleichberechtigung von LGBTQ- Personen, also Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder queer sind, ein. Oft hört er, dass er sich doch eher als „queer“ bezeichnen solle, da dieser Begriff flexibler sei. „Queer“ kann als Sammelbegriff für alle Menschen verstanden werden, die nicht der heteronormativen Geschlechterordnung entsprechen. Das Wort grenzt Identitäten somit nicht scharf voneinander ab. Obwohl Bruno dies befürwortet, hat er politische Gründe dafür, sich explizit als homosexuell zu definieren. Definiere man sich nicht klar als homosexuell, habe man in vielen Ländern (unter anderem in Brasilien) keine konkrete Sache, für die man sich einsetzen könne, erklärt er. Es sei beispielsweise viel schwerer, als queere Person für Gesetze zu kämpfen, da der Begriff zu flexibel sei und die Politik diese Gruppe von Menschen somit nicht in ihrer Agenda berücksichtigen würde.

Zeitweise schien es, als würde sich die Lage für die LGBTQ Community in Brasilien bessern. Seit 2011 gibt es dort die sogenannte „Ehe für alle“. Schwule und lesbische Paare dürfen Kinder adoptieren. Transsexuelle Menschen können ihr Geschlecht offiziell ändern lassen. Doch noch immer war Homophobie in der Gesellschaft sehr präsent.

Bruno, der neben seinem Studium Schulklassen unterrichtete, hatte aufgrund seiner Homosexualität Probleme mit einigen Schüler*innen. So erhielt er beispielsweise anonyme Anrufe mit homophoben Äußerungen, die immer bedrohlicher wurden. Oder er musste in einem Klassenraum unterrichten, der mit homophoben Graffiti besprüht worden war.

All das wurde noch schlimmer, als im Oktober 2018 der rechtskonservative Politiker Jair Bolsonaro zum brasilianischen Präsidenten gewählt wurde. Bolsonaro hatte sich bereits vor seiner Wahl rassistisch, frauenfeindlich und homophob geäußert. Nun nutzte er seine Macht dafür, mehr und mehr Leute von seinen Ansichten zu überzeugen und eine aggressivere Haltung gegenüber diesen Menschengruppen zu provozieren.

Nur wenige Tage nach der Präsidentschaftswahl erhielt Bruno spätabends einen Anruf. Jemand informierte ihn darüber, dass eine Liste mit Namen verschiedener Leute in der Universität verteilt worden war. Die Menschen, die auf der Liste standen, wurden als Abschaum bezeichnet. Brunos Name gehörte auch dazu – er wurde als homosexueller Unruhestifter dargestellt. Die genannten Personen sollten verbannt werden, so stand es auf dem Zettel. Diese Liste war nun in jedem Gebäude der öffentlichen Universität zu finden und am nächsten Tag waren die Namen in vielen Zeitungen zu lesen. In den darauffolgenden Monaten musste Bruno unter Anfeindungen und Drohungen leiden.

Schließlich blieb ihm nur noch ein Neustart im Ausland. Bruno kam im Mai 2019 zurück nach Hamburg. Er hat sich dazu bereiterklärt, einige Fragen zu beantworten, um einen tieferen Einblick in seine Lage zu zeigen.

Was sind für dich die Schlüsselelemente deiner Identität?

Als Sozialwissenschaftler definiere ich mich als kritische und engagierte Person. Ich glaube nicht, dass Wissenschaft und Wissen von den Umständen, unter denen sie produziert werden, weit entfernt sind. Aus diesem Grund können Menschen mein Verhalten manchmal als arrogant, abweisend oder sogar intolerant verstehen. Doch wie Karl Popper es einmal formulierte, muss die Gesellschaft intolerant gegenüber Intoleranz sein, um eine tolerante Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wenn jemand beschließt, sich zu “outen”, sieht sich diese Person unweigerlich mit Vorurteilen in vielen sozialen Zusammenhängen konfrontiert, wie beispielsweise in Familie, Schule, Nachbarschaft, Universität, Arbeit oder Krankenhäusern. Folglich wachsen Menschen wie ich mit dieser unfreiwilligen Mission auf, gegen die Unterdrückung zu “kämpfen”, und normalerweise beinhaltet dieser “Kampf” ein Verhalten oder eine Reaktion, die von den anderen nicht gut aufgenommen wird.

Wie bist du damit umgegangen, dass Teile deiner Identität – deine Sexualität – in Brasilien oft nicht akzeptiert wurden?

Es ist nicht leicht, damit umzugehen. Ungleichheiten prägen unsere Persönlichkeit, unsere gesellschaftliche Stellung und den Zugang zu Chancen. Im Falle Brasiliens, wo die Distanz zwischen den Klassen sehr groß ist, ist dies extrem bedeutsam. In den letzten 20 Jahren gab es in Brasilien viele Fortschritte in der Sozialpolitik, um Klassen-, Rassen- und Geschlechterunterschiede abzubauen. Seit Beginn der Amtsenthebung von Dilma Rousseff (ehem. Präsidentin Brasiliens; Anm. d. Redaktion) im Jahr 2015 begann Brasilien jedoch, von der rechtsextremen Szene beherrscht zu werden, und die Wahl von Bolsonaro im Jahr 2018 verschärfte die bereits bestehenden sozialen Unterschiede noch weiter. Deshalb bin ich hier. Meine Homosexualität begann in diesem Zusammenhang, gefährlich zu werden. Nicht nur an der Universität, an der ich ein Aktivist war, sondern auch in meinem Arbeitsumfeld begann ich Drohungen zu erhalten. Meine Schüler*innen, sowie ihre Eltern, sahen in mir etwas, das vermieden und bekämpft werden musste.

Wie “akzeptiert” sind diese Teile deiner Identität in deiner aktuellen Situation in Hamburg?

Was meine Sexualität betrifft, so fühle ich mich in Hamburg sicher. Anders als an anderen Orten in Deutschland, die vielleicht konservativer sind als hier, hat Hamburg dieses “coole Klima”, in dem ich mich akzeptiert fühle. Allerdings bin ich kein Deutscher und ich spreche die deutsche Sprache nicht sehr gut. Auch bin ich kein Europäer, nicht einmal als “weiß” gelte ich hier. Trotz der Probleme, die ich in Brasilien hatte, hinsichtlich meiner sexuellen Orientierung und der Tatsache, dass ich keine Unterstützung von meinen Eltern hatte, stamme ich aus einer Familie der Mittelschicht und wurde von der brasilianischen Gesellschaft als “weiß” betrachtet. Diese Bedingungen gaben mir einige Privilegien, die ich hier nicht habe. Ich spreche also nicht die Landessprache, ich bin nicht weiß, ich bin nicht in der Lage, mich gegen irgendwelche besonderen Situationen zu verteidigen, und das verunsichert mich manchmal. In diesem Fall geht es meiner Meinung nach nicht um Akzeptanz, sondern eher um Barrieren und Einschränkungen beim Dialog auf gleicher Augenhöhe mit den Einheimischen.

Glaubst du, dass der Umzug von Brasilien nach Hamburg im letzten Jahr deine Identität verändert hat?

Ja, ich glaube schon. Als ich das letzte Mal nach Deutschland kam, war ich 22 Jahre alt. Ich war das erste Mal in Europa, und ich war Bachelor-Student. Zu diesem Zeitpunkt war ich in einer Position ohne allzu viele Verpflichtungen, und auch meine Studienzeit hier betrug nur ein Jahr. Die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, waren auf dem gleichen Level wie ich, und Interaktionen waren überhaupt kein Problem. Dieses Mal kam ich nach Deutschland, ohne zu wissen, was ich erwarten konnte. Ich hatte einfach das Bedürfnis, Brasilien zu verlassen. Jetzt befinde ich mich in einer hohen Position in meinem Gebiet, und das stellt mich vor einige Herausforderungen. Ich bin ein wirklich kontaktfreudiger Mensch, aber mir wurde bewusst, dass die Tatsache, dass ich kein Deutsch spreche, die Möglichkeiten, im Alltag mehr mit anderen Leuten zu interagieren, einschränkt. Viele Menschen wollen nicht andauernd in einer Fremdsprache sprechen, zumindest ist dies mein Eindruck. Vor einem Jahr unterstützten mich die Menschen in meiner Arbeit in sprachlichen Aspekten, aber da sie auch viele Aufgaben zu bewältigen hatten, wurde die Unterstützung im Laufe der Zeit weniger, und ich verlagerte meine Anpassungsstrategie von der Hilfesuche zur Selbstisolierung.

Wenn du in der Zeit zurückreisen könntest, was würdest du deinem “jüngeren Ich” raten?

Ich würde sagen: Bitte kämpfe mehr gegen den Faschismus in Brasilien, dieser Kampf war leider nicht genug.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Carla Engels
Carla Engels Verfasst von: