Warum die Veddel thailändischen Fußball feiert

von Maximilian Park.

Sonntagabend im Hamburger Stadtteil Veddel, die Dunkelheit hat sich schon längst über den Himmel gezogen und die Sonne verschluckt. Hoch oben leuchtet weiß der Mond. In einer der hinteren Ecken des Stadtteils hocken zwei Gestalten, eine Frau und ein Mann, vor einem Projektor und einem Laptop. Der Dritte schützt sie, umringt von schwarzen Lautsprechern,  mit einem Regenschirm von dem einsetzenden Regen. Ein mechanisches Rauschen erfüllt kurz die Umgebung, dann springt der Projektor ruckelnd an: Auf der gegenüberliegenden Hauswand erstrahlt nun der Schriftzug: „A Wall is a Screen“. Der Mann vor dem Laptop schnappt sich ein Mikrofon und erhebt sich. Vor ihm hat sich eine Menschenmenge angesammelt.

Erster Film an diesem Abend

Abends ist hier auf der Veddel eigentlich nicht viel los. Vor allem nicht im Herbst, wo überall das Laub auf dem Boden liegt und es so schnell dunkel wird.  Hier und Dort hat höchstens mal ein Kiosk oder eine Dönerbude offen und wirft Licht auf die Straßen, manchmal fahren Jugendliche johlend in schwarzen Adidas-Jogginghosen vorbei, sonst ist es still.

Kleine Geschichten mit großen Gefühlen

Doch dieser Abend ist anders. Der Mann mit dem Mikrophon in der Hand beginnt zur Menge zu sprechen: „Der nächste Film handelt von einem Fußballverein, der nach seiner Gründung sehr große Schwierigkeiten zu überwinden hatte.“ Ein Raunen geht durch die Reihen: Wieder eine Doku über den HSV?

Plötzlich steht ein Auto vor der Menge, die sich auf einer der Nebenstraßen gesammelt hat. „Es wär ganz nett, wenn wir das Auto durchlassen könnten“, sagt der Mann mit dem Mikrofon. „Also wie das – welches Meer war das jetzt noch mal?“

„Das rote”, antwortet sein Kollege.

„Ja genau, das rote.“

Die Menge teilt sich und der Autofahrer fährt vorbei.

„So, jetzt schließt sich das Meer wieder.“

Die Menge lacht und der Film an der Wand beginnt. Sie sehen die Erzählung der Gründungsgeschichte eines Fußballklubs in einem asiatischen Fischerdorf. Die Kinder des Fischerdorfs sitzen in ihren Hütten und bestaunen im Fernsehen die Spiele ihrer Idole und beschließen, ihnen nachzueifern. Schnell wachsen Sie aus ihren Zimmern heraus, spielen erst auf den schmalen Brücken des Dorfes und bauen sich dann aus morschen Planken ein eigenes, auf dem Wasser schwimmendes Spielfeld. Schnell hat der Film die Zuschauer in seinen Bann gezogen. In den zahlreichen Gesichtern spiegelt sich das projizierte Licht.

Was ist “A Wall is a Screen”?

Die Künstlergruppe, die diese Führungen hält und organisiert, gibt es schon seit 15 Jahren – ihr Name ist „A Wall is a Screen“. Gegründet wurde sie 2003 von Peter Stein, Antje Haubenreisser und Kerstin Budde in Hamburg. Die Idee der Drei war, die Öffentlichkeit mit einem Programm zu bespielen, das die vielen Möglichkeiten im öffentlichen Raum aufzeigen sollte. Heute besteht die Gruppe aus fünf Menschen, die  beruflich alle in irgendeiner Weise in kulturellen Bereichen tätig sind. Die Führungen sind kostenlos, öffentlich und mittlerweile deutschlandweit bekannt.

Auf der Leinwand auf der Veddel verletzen sich die Kinder des Fischerdorfes oft ihre ungeschützten Füße an ihren selbstgezimmerten Fußballfeldern und müssen dem weggesprungenen Ball ins Wasser nachspringen. Doch nichts kann ihren Spaß am Spiel trüben. Die Eltern schauen dem ganzen Geschehen skeptisch zu – ein alter hagerer Mann beobachtet manchmal das Fußballspiel der Kinder und lacht sie dann aus, als er sie wild schreiend und lachend herumlaufen sieht. Ungeachtet der Erwachsenen arbeiten die Kinder jede freie Minute an ihrem Spiel und tanzen auf der Hauswand, während ihnen die Zuschauer gebannt zugucken.

Über 200 Zuschauer haben sich angesammelt

Große Ziele für die Zukunft

„Es ist uns sehr wichtig, den Zuschauern die eigene Stadt in einem anderen Licht zu zeigen“, sagt Sven Schwarz, der ebenfalls Mitglied von “A Wall is a Screen” ist. „Durch die Filme können wir Themen transportieren, die aus dem Kontext der Veranstaltung in deren Rahmen wir stattfinden kommen.“

Filme sucht die Gruppe nach einem ausgewählten Hauptthema meistens in Film- oder Stadtteilarchiven, oft sehr lange. „Da kann man schon gerne mal zwei Monate mit beschäftigt sein.“ Kein Wunder. Allein das ihnen zur Verfügung stehende Archiv der Kurzfilmagentur Hamburg besitzt ein Sortiment von ca. 40.000 Filmen. Aber auch die Orte der Vorführungen sucht die Gruppe mit Bedacht aus: So beginnt die Reise auf der Veddel neben dem S-Bahnhof des Stadtteils mit einem Film über Reisende in Südamerika, die sich illegal auf Zügen fortbewegen. Den Abschluss findet sie mit dem Monolog einer Blinden, als es draußen schon stockfinster ist und der Zuschauer selber kaum etwas sehen kann.

Künstlergruppe international erfolgreich

Die Künstlergruppe hält mittlerweile Führungen rund um den Globus. 2018 veranstalteten sie Filmnächte in 15 Städten in sieben Ländern, meist in Europa. In den letzten Jahren hielten sie auch immer wieder Führungen auf verschiedenen Kontinenten wie zum Beispiel in Japan, Russland und Kanada. Dies wäre aber nicht ohne die Kontakte möglich gewesen, die die Künstlergruppe mittlerweile in der internationalen Filmszene pflegt. Diese knüpfen sie vor allem bei Kulturinstitutionen und Kooperationen.

Die Zuschauer auf der Veddel stehen immer noch gebannt vor der Hauswand, denn der wilde Mix aus dem Fischerdorf wächst nach und nach zu einem starken Fußballteam zusammen. Zunächst gewinnen die Kinder die ersten Spiele gegen andere Mannschaften, werden immer stärker und stärker, bis sie im Finale eines großen Turnieres stehen, das weit weg von zu Hause stattfindet.

„A wall is a screen“-Führung im Hamburger Stadtteil Sternschanze 2014.

Schnell scheint das Spiel entschieden, denn der Gegner ist überlegen und die Dorfkinder liegen weit zurück — bis die Kinder ihre Fußballschuhe ausziehen und barfuß spielen, so wie sie es von Anfang an auf Planken des Fischerdorfes gelernt haben. Auf nackten Füßen spielen sie ihre Gegner schwindelig und gewinnen das Spiel– als der Schlusspfiff ertönt liegt sich das Team glücklich in den Armen. Selbst der alte hagere Mann, ist wie das ganze Dorf mit zum Turnier gereist und klatscht fröhlich in die Hände. In der Mitte der Menge nimmt eine ältere Dame ein Mädchen in den Arm: „Das ist schön, oder?“ Das Mädchen nickt.

“A Wall is a Screen” ist eine Bereicherung

Sieben Wände, Sieben Filme, Sieben Geschichten. Das ist das, was jede der Führungen von „A Wall is a Screen“ ausmacht. Straßen werden zu Startbahnen für emotionale Höhenflüge, Zuschauer werden zu Gefährten auf Reisen durch alle Kulturen und Länder und die Wände der Veddel werden schlussendlich zu Bildschirmen. Die Führung auf der Veddel führt unter Brücken, durch enge Nebenstraßen und vorbei an Passanten, die sich dem Event anschließen.

Nach dem letzten Film zu Ende ist und der Projektor ausgeschaltet wird, fühlt man sich, als hätte man eine lange Reise hinter sich. Die verschiedenen Themen und Personen fliegen durch den Kopf. Langsam löst sich die Menge auf, manche kehren nach Hause zurück, andere lassen den Abend im aufgebauten Bierzelt ausklingen.  Dann der Blick auf den Terminkalender: Wann ist die nächste Führung? Wie lange möchte die Gruppe ihre Führungen noch halten? „Das Ziel ist es natürlich auch weiterhin interessante Filme an ungewöhnlichen Orten zu zeigen, wie lange wir das noch machen werden lässt sich nicht sagen. Wir haben auf jeden Fall alle sehr viel Spaß an dem was wir machen und es gibt in Hamburg und überall auf der Welt noch sehr viele Wände an denen wir noch nicht Filme gezeigt haben“, sagt die Gruppe. Hoffen wir, dass es lange so bleibt.

Hier geht es zur Website von “A Wall is a Screen”: awallisascreen.com

Bild mit freundlicher Genehmigung von A wall is a screen
Maximilian Park Verfasst von:

FREIHAFEN-Redakteur, Musikliebhaber und Hamburger Jung