Effektives Prokrastinieren

Wir definieren das Wort Prokrastination als etwas ausschließlich Negatives. Es beschreibt ein Verhalten, bei dem man eine Tätigkeit grundlos aufschiebt oder häufig unterbricht, sodass man entweder nie zu einem Ergebnis kommt, oder nur unter sehr großem Druck. In manchen Fällen kann sich ein derartiges Aufschiebeverhalten zu einer krankhaften Arbeitsstörung entwickeln, die umgangssprachlich auch „Studentensyndrom“ genannt wird, da ungefähr 70% der Studenten vom permanenten Aufschieben betroffen zu sein scheinen. Doch gibt es vielleicht doch so etwas wie “effektives Prokrastinieren” und könnten Prokrastinateure sogar die kreativeren Menschen sein?

Wer, was, wann und vor allem warum? – Gründe für Prokrastination

Jeder schiebt irgendwann mal etwas auf. Ob das nun Hausaufgaben, Steuererklärungen, das Aufräumen des Dachbodens oder die große Weltreise sind. Männer und Frauen aus allen Schichten und Kulturen schieben gleichermaßen gerne auf. Das heißt nicht, dass alle Menschen im Grunde faul sind. Der Mensch scheint evolutionsbedingt einfach nicht dafür gemacht zu sein, planend und arbeitsteilig zu handeln, wenn es sich nicht um eine für das Überleben notwendige Aufgabe handelt. Ein wenig Aufschieben ist also vollkommen normal.

Wann aber wird Prokrastination zu einer regelrechten Arbeitsstörung, die den Menschen chronisch belastet?

Allgemein ist festzustellen, dass die Tendenz zur Prokrastination von der Menge an Aufgaben, Stress und zusätzlichen Einflüssen, wie z.B. der allgemeinen Lebenssituation des Menschen abhängig ist. Je mehr Aufgaben und Belastung sich anhäufen, desto mehr Druck entsteht. Dieser ist häufig ein Leistungsdruck, der vom Individuum selbst gefordert wird, es kann aber auch ein von Dritten beeinflusster Druck sein. Je höher dieser Druck ist, desto größer wird bei vielen Menschen auch die Angst zu Scheitern. Prokrastination kann deswegen in manchen Fällen ein Schutzmechanismus des Körpers sein, wenn dieser überlastet ist. Zu den Gründen für Prokrastination zählen neben Selbstzweifel, Leistungsdruck und der Angst zu Scheitern auch Perfektionismus und fehlende Selbstverantwortung. So lässt sich beobachten, dass vom notorischen Aufschieben besonders freischaffende Köpfe betroffen zu sein scheinen. Damit sind beispielsweise Künstler, Freiberufler, Lehrer, Schüler und Studenten gemeint. Werktätige, die selbständig ihre Arbeitszeit einteilen. Dieses freie Schaffen erfordert einen hohen Grad an Selbstverantwortung und Selbstorganisation.

Fehlt es einem Menschen, der existenziell eigenverantwortlich ist, an Disziplin, gerät er in einen Teufelskreis. Hat man eine wichtige Herausforderung des Lebens, wie z.B. den Studienabschluss, systematisch gemieden, wird die Entwicklung dieses Menschen fortwährend eingeschränkt. Psychotherapeuten sprechen hier von einer „Handlungsstörung“. Obwohl man weiß, dass die Bewältigung dieser konkreten Aufgabe für die eigene Entwicklung eine große Rolle spielt, schiebt man sie aus verschiedenen Gründen auf, die man sich meist selbst nicht erklären kann. Zu den Gefühlen der Angst und des Zweifels gesellen sich Scham und mit dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, Panik.

Mit Faulheit und Passivität hat Prokrastination also rein gar nichts zu tun. Jemand, der faul ist, hat eine bestimmte Gleichgültigkeit entwickelt. Er vermeidet nicht die Aufgabe aufgrund ihrer Bedeutung, sondern wegen der Anstrengung, die mit ihr verbunden ist. Sein Gewissen ist rein, während jemand, der an Prokrastination leidet auch dies tut: leiden. Ein Prokrastinateur erledigt in der Zeit, in der er die eine wichtige Aufgabe erledigen sollte, alle anderen Aufgaben, die ihm sonst eigentlich auch unangenehm erscheinen würden, um sein Gewissen zu beruhigen und um sich später sagen zu können „Ich hatte heute keine Zeit für die wichtige Aufgabe, die über mein ganzes weiteres Leben entscheidet. Morgen aber! Morgen ist mein Tag.“

Im Gehirn eines Master-Prokrastinateurs

Bei der Recherche für diesen Artikel bin ich im Internet auf ein interessantes Video gestoßen, das ich an dieser Stelle erwähnen möchte: In einem unterhaltsamen und zugleich sehr aufschlussreichem TED talk erklärt der Redner Tim Urban, Blogger und Erfinder der Internetseite „Wait But Why“, wie es im Kopf eines Master-Prokrastinateurs aussieht. Er, selbst Prokrastinateur mit jahrelanger Erfahrung, stellt fest, dass sich das Gehirn eines Prokrastinateurs deutlich von dem eines Nicht-Prokrastinateurs unterscheidet.

Im Gehirn eines Nicht-Prokrastinateurs hat ein kleines Männchen mit dem Namen „Rational-Decision-Maker“, zu Deutsch „rationaler Entscheidungstreffer“, das Steuerrad. Im Gehirn eines (Master-)Prokrastinateurs hat dieses Männchen einen kleinen Affen als Begleiter, der sich „Instant Gratification Monkey“, also „Affe der augenblicklichen Genugtuung“, nennt. Urban meint, werden diese beiden nicht ab und an vom „Panik-Monster“ besucht, hat die meiste Zeit lang der Affe das Sagen und der rationale Entscheidungstreffer verbringt seine Zeit unfreiwillig auf dem „Dunklen Spielplatz“, ein Ort der scheinbaren Unbeschwertheit, weit entfernt von der Welt des Sinn-Ergebendem, wo Schuld, Angst und Selbsthass an der Tagesordnung sind.

Ich empfehle dieses 14-minütige Video, um sich auf unterhaltsame Art der Ernsthaftigkeit dieses Themas bewusst zu werden:

In einem von drei Artikeln zum Thema Prokrastination erklärt Urban auf seinem Blog auch, wie man Prokrastination bewältigt und sich Schritt für Schritt aus dem Teufelskreis löst. Für das Verlassen des „Dunklen Spielplatzes“ sei nicht nur gute detaillierte Planung notwendig, sondern auch das schwere, aber notwendige „Doing“. So müsste man, um zum „Happy Playground“ zu gelangen, nicht nur zuerst den Ausgang des „Dark Playground“ finden, sondern auch den dichten scheinbar unendlichen „Dunklen Wald“ der Aufgabe mit dem Affen im Schlepptau bewältigen. Und dann sollte man aufpassen, dass man nicht statt im „Happy Playground“ im  „Mixed Feelings Park“, also dem „Gemischte Gefühle Park“, landet. Wem Tim Urbans Darstellung der Probleme eines Prokrastinateurs gefällt und sich gerne verrückte Zeichnungen von Strichmännchen ansieht, sollte unbedingt diesen Artikel lesen.

Wann ist Aufschieben gesund?

Wir haben bisher festgestellt, dass Prokrastination das Ausmaß einer Krankheit besitzt und sich in schwerer Depression äußern kann. Sprechen wir nun vom alltäglichen Durchschnitts-Aufschieben. Kann Aufschieben ab und an auch gesund und effektiv sein?

Manch einer, wie z.B. der „The New York Times“ – Journalist Adam Grant, ist der Meinung, das Aufschieben die Kreativität fördern kann. In seinem Artikel „Why I Taught Myself to Procrastinate“ vom 16. Januar 2016 schreibt Grant darüber, dass er jahrelang zu den „pre-crastinators“ gehört habe, die Aufgaben so schnell wie möglich anfangen und beenden. Für „Prekrastinateure“ sei Fortschritt Sauerstoff und Aufschub Qual. Die Angst, die Kontrolle zu verlieren und sich leer zu fühlen, wenn man die Aufgabe nicht sofort erledigt, treiben die Suche des Prekrastinateurs nach dem s.g. „flow“  ständig an. Der „flow“ sei ein bestimmter geistiger Zustand, in dem die Konzentration auf die eine Aufgabe so stark sei, dass man vollkommen von ihr eingenommen jedes Bewusstsein für Zeit und Raum verliere. So hätten Grants Mitbewohner im College schon einmal eine Party gefeiert während er schrieb und er habe es nicht bemerkt.

Grant war fest überzeugt von seiner Strategie, bis eine seiner kreativsten Schülerinnen, Jihae Shin, seine Gewohnheit in Frage stellte. Sie sagte ihm, dass sie ihre originellsten Ideen hatte, nachdem sie die Aufgabe erst eine Zeit lang aufschob. Grant forderte sie heraus, ihre Theorie zu beweisen. Shin ging zu verschiedenen Unternehmen und befragte Angestellte, wie oft sie Dinge aufschoben und bat ihre Vorgesetzten, die Kreativität ihrer Angestellten zu bewerten. Das Ergebnis: die Angestellten, die Aufgaben aufschoben, erhielten höhere Punktezahlen für ihre Kreativität als Prekrastinateure wie Grant. Grant war jedoch noch nicht überzeugt, also führte Shin weitere Experimente durch: Sie bat Menschen dazu, neue Geschäftsideen zu entwerfen.  Einige wurden zufällig damit beauftragt, sofort mit der Aufgabe zu beginnen, während andere zuerst fünf Minuten lang Minesweeper oder Solitaire spielen durften, bevor sie mit der Aufgabe beginnen durften. Die später eingereichten Ideen wurden von unabhängigen Beurteilern nach Originalität bewertet. Ideen von den Teilnehmern, die die Aufgabe nicht sofort lösten, wurden zu 28 Prozent als kreativer bewertet. Es schien, als ob Aufschub kreatives Denken fördern würde.

Grant erklärt sich das Ergebnis folgendermaßen: Er meint, dass erste Ideen leider nicht immer die Besten wären, sondern eher die üblichsten. Wenn man seine Gedanken stattdessen zuerst eine Weile wandern lässt, bevor man mit einer Aufgabe beginnt, stößt man mit größerer Wahrscheinlichkeit auf etwas Neues, Innovatives: „When we finish a project, we file it away. But when it’s in limbo, it stays active in our minds. “. Mit dieser Schlussfolgerung, kommt bei Grant die Frage auf, ob diese Regelung, die für die „Alltags-Kreativität“ funktioniert auch für monumentale Errungenschaften gilt. Nachdem Grant feststellt, dass Steve Jobs ständig Dinge aufschiebe und Bill Clinton seine Reden auch immer erst in letzter Sekunde übe, entschließt Grant sich, in den Selbsttest zu gehen und vom Prekrastinateur zum Prokrastinateur zu werden. Den Artikel „Why I Taught Myself to Procrastinate“ hat er mit seiner neuen erfolgreichen Strategie geschrieben, indem er den Artikel immer wieder bei Seite gelegt hat und über mehrere Wochen hinweg geschrieben hat. So hätte er mehr Zeit und Ruhe gehabt, seine Gedanken in verschiedene Richtungen schweifen zu lassen und das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Grant weiß, dass Prokrastination zwar auch zu weit gehen kann und man nichts schafft, wenn man bis zur allerletzten Sekunde wartet, meint aber, dass Prokrastination, bewusst angewandt, eine effektive Methode ist, um kreative Ergebnisse zu erhalten. Am Ende seines Textes rät er: „You can’t be afraid of leaving your work un … “.

Bild mit freundlicher Genehmigung von &copy Mona Lamiri
Mona Lamiri Verfasst von:

18 Jahre alt, Abiturientin und Sprachbegeisterte. Redakteurin beim FREIHAFEN.