Hoffnung auf Demokratie verloren?!

Wie schreibt man eine Biographie über eine Person, die man nicht treffen kann, weil Interviewanfragen unbeantwortet bleiben? Diese Frage musste sich Çiğdem Akyol stellen, als sie mit ihrer Biographie über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan begann. Doch die Journalistin, die unter anderem für die TAZ arbeitete und nun als freie Journalistin in Istanbul lebt, ließ sich nicht entmutigen, sprach mit Freunden und Feinden des Politikers, Parteigenossen, ehemaligen Mitgliedern seiner Partei AKP und verfolgte seine politische Laufbahn. So konnte sie dieses Jahr die Biographie fertig stellen, die am Montag, den 26.09.2016, den Ausgangspunkt für eine Diskussion über die aktuelle Lage in der Türkei bildete. Dort diskutierte sie unter der Leitung von Reiner Scholz von der umdenken Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg mit Kristian Brakel, dem Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, sowie mit den Zuhörern in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg.

Von Kasımpaşa in das Zentrum der Macht

Çiğdem Akyol spannte zu Beginn einen Bogen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, indem sie einmal aus der Einleitung ihrer Biographie vorlas, in der sie den Ist-Zustand der türkischen Politik beschreibt und zum anderen aus dem ersten Kapitel ihres Buches, das sich mit der Kindheit Erdoğans beschäftigt. Hierbei betont die Autorin, dass sein Erfolg dem türkischen Politiker, der heute vielfach in der Türkei sowie von vielen Türkeistämmigen im Ausland für seine Stabilität- und Fortschrittbringende Politik verehrt wird, nicht in die Wiege gelegt wurde. In ihrem Buch beschreibt Akyol, wie Erdoğan im Istanbuler Stadtteil Beyğolu, in Kasımpaşa, in einem von islamischer Frömmigkeit geprägten Milieu aufwuchs, in dem Bildungsferne, Mittellosigkeit und sunnitischer Konservatismus vorherrschten. Entgegen so mancher Erwartung, so beschreibt es Akyol, verschweigt der türkische Präsident seine bescheidene Herkunft allerdings nicht, sondern nutzt sie für sich. Diese Inszenierung seiner Herkunft, teils auch verbunden mit einer Romantisierung seiner Kindheit, ist ein wichtiger Bestandteil seiner Volksnähe. Zu dieser Volksnähe zählt aber ebenso, dass Erdoğan sich stolz und offen als schwarzer Türke bezeichnet. So gab er dieser Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige vielfach aus der Unterschicht und den anatolischen Gebieten stammen, ihr Selbstbewusstsein zurück.

Doch die Politik des Präsidenten hat auch ihre Schattenseiten. Nach der Hoffnung auf eine zunehmende Demokratisierung nach den Gezi-Protesten, so berichtet es Akyol, ist die Türkei eher autokratischer geworden, die Pressefreiheit hat abgenommen, der Terror wird in der Türkei immer allgegenwärtiger und es gibt häufige Neuwahlen. Nicht vergessen darf man in dieser Liste der aktuellen Probleme der Türkei den versuchten Militärputsch, der am 15. Juli dieses Jahres stattfand.

Wenn Freunde zu Feinden werden

Diese neueren Entwicklungen sind auch Teil der Diskussion, die auf die Buchvorstellung Akyols folgte. Die Autorin sprach mit Kristian Brakel, der in Hamburg und Izmir Islamwissenschaften studierte und für internationale Organisationen beratend tätig war, bevor er Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul wurde, und mit Reiner Scholz, Journalist und Vorstandsmitglied der umdenken-Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg e.V. Das erste Thema war das Verhältnis zwischen Recep Tayyip Erdoğan und dem Prediger Fethullah Gülen. Die beiden Männer waren bis 2012/13 Weggefährten, nicht zuletzt, weil sie die Abneigung gegen das kemalistische Militär und die Opposition teilten. Doch als es schließlich dazu kam die „Beute zu verteilen“, wie Çiğdem Akyol es beschrieb, also Macht und Geld zu teilen, überwarfen sich die beiden Männer. Der türkische Präsident verdächtigte daraufhin Gülen, maßgeblich an dem Korruptionsskandal beteiligt zu sein, im Rahmen dessen Söhne hochrangiger Mitglieder der Partei Erdoğans, der AKP, angeklagt wurden.

Wichtig ist das Verhältnis dieser beiden Männer besonders, um den versuchten Putsch nachzuvollziehen, der sich am 15. Juli dieses Jahres in der Türkei ereignete. Sowohl Çiğdem Akyol als auch Kristian Brakel waren zu diesem Zeitpunkt in Istanbul und berichteten von der anfänglich eher ruhigen Lage während des Putschversuches, von dem sie erst über Twitter beziehungsweise durch den Anruf der Mutter aus Deutschland erfuhren. Gleichzeitig schilderten sie einige Momente der Nacht aber als durchaus bedrohlich. So durchbrachen die Kampfjets, die über der Stadt flogen, später in der Nacht so tief über den Wohnhäusern die Schallmauer, dass Wände wackelten und Fenster aus ihren Rahmen sprangen. Und vor den Geldautomaten bildeten sich Menschenansammlungen, weil die Menschen durch eigene Erfahrungen oder aus Erzählungen ihrer Eltern gelernt hatten, dass das Abheben von Bargeldein sinnvolles Verhalten vor einem Putsch ist.

Wenn es um die Hintergründe des Putsches geht, sind sich die Journalistin und der Islamwissenschaftler einig, dass sie „wissen, dass [sie] nichts wissen“. Trotzdem argumentiert Kristian Brakel, dass wenig für eine Inszenierung des Putsches durch den türkischen Präsidenten spricht. Er bezweifelt, dass Erdoğan das Militär davon hätte überzeugen können für ihn einen scheiternden Putsch zu inszenieren, an dessen Ende alle Beteiligten verhaftet würden. Außerdem wirkte Erdoğan selbst, laut Brakel, in dieser Nacht alles andere als ruhig und sicher. Gleichzeitig verwirft der Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung aber auch die These, dass Fethullah Gülen das Militär zum Putsch angestiftet haben könne. Er kann sich nicht vorstellen, wie die Gülen-Bewegung, die seit 2012/13 dem türkischen Volk als Terrororganisation beschrieben wird, sich vor das Volk stellen, sich als „Retter des Landes“ darstellen und im Folgenenden die Macht übernehmen könne. Eine einfache Lösung scheint es also nicht zu geben und die Situation ist und bleibt unübersichtlich.

Worin sich alle aber einig sind, der Präsident betont es sogar selbst, ist, dass der Putschversuch für Erdoğan ein Geschenk Gottes war: er erlaubte ihm eine groß angelegte Säuberungswelle vorzunehmen – und die Diskutierenden kommen zu dem Ergebnis: „Demokratischer wird die Türkei nicht in nächster Zeit.“

Die Meinungen sind geteilt

Im Publikum allerdings gibt es sehr unterschiedliche Meinungen über Erdoğan und seine Politik: Ein Anwesender kritisiert besonders das gewalttätige Vorgehen des türkischen Präseidenten gegen die kurdische Bevölkerung nach der letzten Wahl, ein anderer Herr bezeichnet die HDP, eine linksgerichtete politische Partei in der Türkei, die sich besonders für die Rechte der Kurden einsetzt, als pro-terroristische Partei, und kritisiert das Vorgehen kurdischer Gruppen. Eine weitere Zuschauerin geht wiederum darauf ein, dass sich die Lage der Kurden zumindest zu Beginn der Regierungszeit Erdoğans durchaus gebessert hat. Im Gegensatz zu der Situation unter früheren Regierungen ist es den Kurden heute wenigstens wieder erlaubt ihre Sprache zu sprechen. Außerdem betont sie, dass es unter Erdoğan nun auch endlich für eine Frau, die das Kopftuch trägt, möglich ist, an einer staatlichen Universität zu studieren. Ciğdem Akyol gibt hierbei allerdings zu bedenken, dass man mit einem Rückblick nicht das Handeln von heute rechtfertigen könne: „Fortschritte werden dem Machthunger geopfert.“

Am Ende lassen sich die Parteien zwar nicht miteinander versöhnen, aber die Erdoğan-Biographin betont, was aus ihrer Sicht nicht vergessen werden sollte: Erdoğan muss behandelt werden wie jeder andere auch, denn er ist und bleibt ein demokratisch gewählter Präsident. Genauso wenig sollte man seinen Wählern das Gefühl geben sie seien Idioten, sondern sich mit weniger Emotionalität und ohne die Schablone des deutschen Systems anzulegen, fragen, warum diese Entwicklungen so passieren, wie sie es tun.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Carla Mauermann
Carla Mauermann Verfasst von: