Teil 3: Kuriose Begegnungen

Paul ist auf Weltreise. Und das mit dem Fahrrad. Welche Gedanken und Motivationen, aber auch Ängste und Zweifel ihn in der Vorbereitung beschäftigten, berichtet er in der neuen Printausgabe 02/2019 des FREIHAFEN. Hier berichtet er nun in unregelmäßigen Abständen, was er auf seiner Reise erlebt.

Tag für Tag sehen wir hunderte, vielleicht tausende Gesichter. Die schiere Anzahl an Persönlichkeiten ist derart überwältigend, dass wir kaum Zeit haben, einzelne zu verinnerlichen. Bevor wir die Zeit haben, Besonderheiten eines Gesichts, das soeben an uns vorübergegangen ist, zu verarbeiten, kreuzt schon das nächste unseren Weg und das vorherige ist vergessen.

Mein riesiger Rucksack und ein Fahrrad mit zwei Satteltaschen scheinen die Blicke der Gesichter auf mich zu ziehen und die meiste Zeit über fühle ich mich beobachtet. Leider muss ich festhalten, dass viele dieser Gesichter verwirrt dreinblicken, ernst sogar. Manchmal jedoch werde ich von Blicken erfasst, die Interesse in sich tragen. Und über diese Blicke, Gesichter, Menschen möchte ich berichten.

Es dauerte eine Zeit, bis ich mit jemandem ein längeres Gespräch führte, seit meinem ersten Abend in dem „Hotel zur Mühle”. Doch obwohl eine neue Begegnung auf sich warten ließ, kam sie zur rechten Zeit. Zwischen mir und der Studentenstadt Vechta hatten noch fünf Kilometer gelegen, bevor die Wolken es nicht mehr halten konnten und scheinbar ein See, Tropfen für Tropfen, über mich niederzubrechen begann. Ich akzeptierte diesen Umstand ohne Widerstand und begann meine Sachen regendicht einzupacken. Bevor ich meinen Regenschutz herausfummeln konnte, hielt ein schwarzer Van vor mir mit der Aufschrift „Beef Chief“. Eine Tür öffnete sich und ein unbekannter Mann schrie die Frage heraus, wohin ich fahren würde. Ich teilte ihm mein Reiseziel mit und er bot an, mich mitzunehmen, da er nicht Zeuge des ersten Mannes sein wollte, der in einem Regenschauer ertrank. Ich nahm das Angebot bedenkenlos an. Aber Vorsicht, Kinder; steigt niemals in den Van eines Fremden ein – außer wenn auf der Seite „Beef Chief” aufgedruckt ist.

Der Unbekannte entpuppte sich als Burgerladen-Besitzer namens Laftem, der ursprünglich aus dem Kosovo stammt. Auf der zwanzigminütigen Fahrt sprachen wir hauptsächlich über Menschen. Und warum nur die wenigsten auf eine derart selbstverständliche Art anderen aus der Patsche helfen. Sich Zeit nehmen, obwohl sie keine haben, so wie Laftem selbst. Die einzige Art ihm zu danken sah ich in diesem Moment darin, mein Abendessen bei ihm im Burgerladen abzuhalten. Und ich weiß nicht, ob die Müdigkeit von der Fahrt mein Burgereinschätzungsvermögen beeinträchtigt hatte, aber es könnte der beste Burger gewesen sein, den ich jemals essen durfte. Vielleicht lag es am zarten Fleisch oder der besonderen Soße. Vielleicht geht Laftem die Zubereitung seiner Burger auf die gleiche Weise an, wie er Menschen behandelt, mit Respekt.

Nachdem ich Vechta verlassen hatte, folgten Tage einer erneuten Flaute von nennenswerten Begegnungen. Dies wurde jedoch ausbalanciert, als ich in Hagen am Teutoburger Wald ankam. Ich hatte einen steilen Berganstieg hinter mir, doch was mich auf dem Berg erwartete, ging steiler ab. Es war Kirmes in der Stadt und obwohl ich gerne behaupten würde, dass ich das typische Publikum einer Kirmes aus Hamburg kenne, der Anblick der sich mir hier bot, war von Grund auf wesensfremd. Jung und alt zelebrierten benebelt das Leben auf einem Berg. Ich stellte die Theorie auf, dass auf dieser Höhe die dünne Luft die Menschen zu exzessiverem Trinkverhalten zwingen würde, doch mit dieser Theorie konnte ich keinen Fuß fassen. Ganz abgesehen davon, dass dies weder der Ort noch die Zeit für Theorien war. Denn je mehr ich grübelte, desto weniger gelang es mir, mich unter das Volk zu mischen. Schließlich gab ich das panische Denken auf und versuchte die Stimmung nachzufühlen. Es stellte sich heraus, dass dies der Schlüssel zu dieser Menge war. Ich geriet in eine Gruppe und zusammen tanzten wir unter einem Partyzelt zu Schlagerklassikern, bis die Füße schmerzten. Dann tanzten wir etwas länger, bis der Schmerz nicht mehr zu spüren war und irgendwann die Kirchturmuhr zwölf schlug. Rasch wurde das Partyzelt zusammengefaltet und zusammengefaltet setzte auch ich mich auf einen Bordstein.

Wie die Bewegung eines Baches beobachtete ich die Menschenmenge, die an mir vorüberzog. Aus meiner Trance wurde ich von einem Mann gerissen, der neben mir auf dem Bordstein Platz nahm. Wir gerieten schnell in ein Gespräch und so surreal es mir auch schien, hatte ich das Gefühl, als ob ich ihn schon ewig kennen würde. Da es allmählich kalt wurde, lud er mich in sein Heim ein. Auf dem Weg dorthin erzählte er über sich, unter anderem, dass er Kaninchen im Wohnzimmer hielt. Ich brach innerhalb einer Woche die zweite Nummer-Eins-Regel, die einem die Eltern eindreschen: niemals einem Unbekannten folgen, der behauptet, Hasen zu besitzen. Ich dachte einen Moment über seine Aussage nach und entschied, da er „Kaninchen“ gesagt hatte und nicht „Hasen“, dass für mich keine Gefahr bestehen konnte. Bei ihm zu Hause angekommen stellte ich schnell fest, dass er tatsächlich Kaninchen hielt und im weiteren Gespräch offenbarte sich mir der Grund. Er empfand, dass sie ein leichterer Umgang seien als Menschen, einer Aussage, der ich nur zustimmen konnte. Als ich jedoch die Reaktion einer Todesangst bekam, als ich die Tiere streicheln wollte, verstand ich, dass auch Kaninchen nicht leicht zu handhaben sind.

Der Mann entpuppte sich als herzensguter Mensch, der mir anbot, einen Tag länger zu bleiben, da meine Beine noch erschöpft von dem Bezwingen des Berges waren. Wir verbrachten den Tag mit Pizzaessen und Sitcomsgucken. Mehr hatte ich mir nicht gewünscht, denn seit meiner Abreise lernte ich genau diese kleinen Dinge, wie einen ganzen Tag auf der Couch zu verbringen, sehr zu schätzen. Und auch den Umgang mit jemandem, der wenigstens denAnschein machte, als würde ich ihn ewig kennen, schätzte ich. Es gehört zu den wichtigsten Freuden meines Lebens, mit jemandem Zeit zu verbringen, der mich versteht.

Am nächsten Tag verabschiedete ich mich von dem Mann mit den Kaninchen und führte meine Reise fort. Dass ich in so kurzer Zeit zwei Menschen getroffen hatte, die mir so selbstlos geholfen hatten, gab mir Hoffnung. Und es gab mir Kraft, mich von den unzähligen misstrauischen Blicken nicht runterziehen zu lassen.

Ich sehe ein, dass auch ich bei einem ungewohnten Anblick ab und an misstrauisch dreinblicke. Das ist ein Umstand, der einen nicht beunruhigen sollte, denn eigentlich ist es so normal wie Räder an einem Fahrrad.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Paul Kuprianow
Paul Kuprianow Verfasst von: