Wie lernen unsere Kinder in der schule von morgen?

[Meinung] Dienstagmorgen, 8.30 Uhr in einem Gymnasium in Hamburg: Der 14 Jahre alte Kim ist mitten in seiner Biologieklausur. Die letzten zwei Wochen hat er den Stoff des vergangenen Halbjahres auswendig gelernt, um ihn nun in der Prüfung möglichst perfekt wiederzugeben. Eigentlich interessiert er sich gar nicht für DNA-Strukturen, aber seine Eltern sagen, dass er gute Noten braucht, um später alle Möglichkeiten zu haben. Nach der zweistündigen Klausur folgen noch jeweils zwei Unterrichtsstunden in Mathe, Spanisch und Musik. Am Nachmittag wartet ein Berg an Hausaufgaben auf Kim und um 18 Uhr hat er noch Klavierunterricht. So oder so ähnlich sieht jeder Tag in einer normalen Woche des Teenagers aus. Er hat keinen Spaß an der Schule und er hat schon gar keinen Spaß am Lernen. Aber in knapp zehn Jahren hat er vermutlich einen Universitätsabschluss. Dann hat er es in den Augen seiner Eltern und den Augen der Gesellschaft geschafft. Doch hat Kim überhaupt etwas gelernt?

In der Wissenschaft ist man sich dahingehend noch nicht ganz einig. Der Neurobiologe Gerald Hüther beschreibt den Sachverhalt im Interview mit Christel van Dieken von der Waterkant Academy wie folgt: „Es ist offenbar so, dass zwei Jahre nach dem Abitur […] die Optimisten sagen fünf Prozent, die Realisten zwei Prozent von dem übrig ist, was man in diesen ganzen vielen Jahren gelernt hat.“ Nach kurzer Zeit bleibt aus zwölf Jahren Schule also fast nichts mehr übrig. Diese selbstgeschaffene Dystopie ist laut dem Wissenschaftler in unserer falschen Vorstellung des Lernens begründet. „Das, was in den Bildungseinrichtungen von uns verlangt wird, ist Auswendiglernen. […] Das ist hirntechnisch eigentlich gar kein Lernen, sondern ein vorübergehendes Einlagern von Informationen mit dem Ziel, es möglichst schnell auch wieder vergessen zu können. Weil dieses Lernen nichts mit mir zu tun hat.“

Richard David Prechts Traum vom „halbverwilderten Garten“

Und was ist die Alternative der Wissenschaft zum herkömmlichen Lernen? Ganz einfach: Das Spielen. Also Lernen durch Ausprobieren. „So lernen wir alles“, sagt der Neurobiologe und so gehe es nicht nur dem Menschen, sondern auch Tieren und sogar Pflanzen. „Diese Art des Lernens ist die richtige und natürliche Form des Lernens und eigentlich auch die einzige. Das andere ist eine besondere Form von […] Abrichtung.“ Sobald dem Lernen ein Zweck zugrunde liegt, handele es sich nicht mehr um Lernen, sondern um zielorientiertes Handeln. Ein Beispiel dafür wäre das Auswendiglernen der DNA-Struktur, um ein gutes Ergebnis in der Bio-Klausur zu erreichen. Mit dieser Einstellung zur Bildung und zum Lernen steht Hüther bei weitem nicht allein da.

Der Philosoph Richard David Precht nennt Bildung einen „absichtslosen Prozess“. Precht beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Bildung und unterhielt sich erst kürzlich mit dem Journalisten Reinhard Kahl im Rahmen des Utopie-Studios der Leuphana Universität darüber. Beim absichtslosen Lernen gehe es nicht darum, dass Kinder und Jugendliche einfach machen, was sie wollen. „Ein sanftes Müssen gehört natürlich zum Leben dazu“, so Precht. In diesem Zusammenhang stellt der Philosoph eine anschauliche Metapher für unsere Bildung auf: „Man könnte sich das vielleicht wie einen Garten vorstellen. Ein besonders schöner Garten ist ein halbverwilderter Garten. Ein völlig verwilderter Garten führt nämlich am Ende dazu, dass nur noch zwei oder drei Pflanzenarten übrig sind. […] Aber ein völlig gepflegter Garten ist ein mausetoter Garten. Der halbverwilderte Garten ist eigentlich das Ziel und der ist sehr schwer herzustellen.“

Von einem halbverwilderten Garten kann im deutschen Schulsystem nur die Rede sein, wenn man über die ungepflegten Büsche und Sträucher auf den Schulhöfen spricht. Unsere Schulen erinnern mit den vorgegebenen Fächern und klar strukturierten Tagesabläufen mehr an eine militärische Einrichtung als an einen Ort zur Selbstverwirklichung. Der niederländische Historiker Rutger Bregman bringt das Problem in seinem Buch „Im Grunde gut“ auf den Punkt: „An den meisten Schulen klingelt genau dann die Glocke, wenn ein Schüler gerade im Flow ist. Könnte es ein System geben, das mehr darauf ausgerichtet ist, vom Lernen abzuschrecken?“

Im Ausland wird vorgemacht, wie Schule gehen kann

Doch wie könnte eine Einrichtung aussehen, die richtiges Lernen fördert? Ein Beispiel dazu findet sich im Ausland, und zwar nicht am anderen Ende der Welt, sondern bei Deutschlands direktem Nachbarn: in den Niederlanden. Nahe der deutschen Grenze in Roermond findet sich die Agora-Schule. Ihr Motto: „Forget what you know about teaching, start with what you really know about learning“, sagt Rob Houben ein „Lehrer“ der Schule gegenüber dem YouTube-Kanal pi-top TEAM. An dieser Schule gibt es keinen festen Unterricht, keine Stundenpläne, keine Altersgruppen. „We trust in the fact that children want to learn. If we doubt this fact, we will sell them short.“ Was die Menschen verstehen müssten, ist laut Houben, dass Kinder immer lernen wollen. Nur nicht immer das, was die Erwachsenen ihnen beibringen möchten. In Agora werden nur freiwillige Vorlesungen gehalten und die meisten davon von den Kindern selbst. Ansonsten haben die Schüler*Innen eine*n Lehrer*In, der/die mit ihnen versucht, selbstgesteckte Lernziele zu erreichen. Das geschieht nicht in ständig wechselnden Klassenräumen. Alle haben ihren eigenen Arbeitsplatz, den sie selbst gestalten können. Im Laufe der Umsetzung ihrer Projekte sollen die Kinder nicht nur lernen, an sich selbst zu glauben, sondern auch das Scheitern. Denn das Scheitern, so Houben, sei der beste Weg, etwas zu lernen.

Wird die Grundschule bald überflüssig?

Womit wir wieder bei Gerald Hüther und dem Lernen durch Ausprobieren wären. Die Vision des Wissenschaftlers geht noch einen Schritt weiter. Hüther ist der Meinung, dass eine tiefgreifende Änderung des Schulsystems schon im Kindergarten anfangen muss. Beispielsweise durch Werkstattkindergärten kann den Kindern von Anfang an das richtige Lernen an die Hand gegeben werden. „Ich glaube, dass man Beispiele dafür braucht, wo ein Werkstattkindergarten so arbeitet und dann zur großen Überraschung aller Kinder rauskommen, die nicht mehr in die Grundschule gehen können.“ Die Primarstufe werde dann überflüssig, weil die Kinder dafür schon zu viel wissen.  Es könnte ihnen nichts neues mehr beigebracht werden.

Eine Utopie? Keineswegs, denn schon jetzt werden diese Ideen in viele deutsche Kindergärten getragen. In einigen Jahren könnten die ersten Kinder in die Grundschule kommen, die dort gar nichts neues mehr lernen. Dann wird sich zeigen, ob das ordnungsliebende Deutschland bereit ist, ein wenig seiner Ordnung zum Wohle der Kinder aufzugeben. Damit die Kims von morgen wieder Spaß am Lernen haben.

Dieser Beitrag ist ein Meinungsbeitrag und spiegelt den Standpunkt des*der Redakteur*in zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wider.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Olia Danilevich
Moritz Löhn Verfasst von: