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Buzz Aldrin ist ein Trottel; Neil Armstrong ist ein Trottel

Dies ist der Reisebericht eines Weicheis, kein Text über die Mondlandung per se. Eine Verhandlung zwischen sinnbehafteter Entfremdung des Bekannten und der moralischen Verantwortung gegenüber dem eigenen Leben. Wo liegt die Grenze für den Wert von Erfahrungen, wo das Subjekt? Ich habe mich auf eine Fahrt über eine der gefährlichsten Straßen der Welt begeben, den Abano-Pass in Georgien. Über die Erkenntnisse meiner Fahrt und deren Wertigkeit.

Prelude

Als ich Rati* das erste Mal traf, schnulzte ein Lied von Tracy Chapman befremdlich aus den Lautsprechern seines Ford Galaxy. Das LCD-Display seines Autoradios zeigte „Tracy Chapman – Forgive Me” an, dunkelblaue Schrift auf grelltürkisem Hintergrund. Dabei heißt der Song eigentlich „Baby Can I Hold You“. Rati beginnt seine Sätze häufig mit: „Kann man sagen…“. Er hat einige Jahre in Deutschland studiert, die Kommunikation fällt leicht. „Kann man sagen, Tracy Chapman ist eine tolle Sängerin, viel Power.“, war der erste Satz, der mir auffiel. Rati hat ein ovales Gesicht, ist ungefähr 40 Jahre, trägt einen grau-schwarzen Dreitagebart. Sein linker Vorderzahn ist leicht schief und sein Deckhaar nicht vorhanden. Rati war unser Guide für die Reise. Eine siebentägige Wanderung in den tuschetischen Bergen, auf einer Höhe von circa 1800-2500 Metern. Einen Tag vor der Abreise verabredeten wir uns zu einem Kennenlernen in Tbilissi. „Forgive me, that’s all you can’t say“, sang Chapman während wir uns auf den Weg in Richtung Stadion begaben. Rugby, wovon ich keine Ahnung hatte.

Der Plan klang eigentlich relativ simpel: Hinfahren, Wandern, Spaßhaben, Zurückfahren, nicht Sterben. Wir kannten die Details, die Gefahren und die Belohnungen, die für dieses Risiko in Aussicht standen. Rati weihte uns trotzdem ein. Die Straße sei nur zwei Monate im Jahr befahrbar. Den Rest des Jahres sei sie aufgrund von Lawinen oder Steinschlägen oder Erdrutschen nicht zu überqueren. Und jedes Jahr sterben mehrere Menschen bei der Überfahrt. Wie viele genau konnte er nicht sagen. Die Strecke betrage ungefähr 350km von Tbilissi aus, wovon siebzig auf die Abano-Straße fallen würden. Eine Fahrt von fünf bis sechs Stunden, drei bis vier auf dem Pass. Die Gefahr, die vom Weg ausgeht, macht Tuschetien als Reiseziel umso begehrenswerter. Neben seiner fast unberührten Natur gäbe es ein besonderes Mikroklima, welches Bewaldung und satte, grüne Flora begünstigt. Trotz der eigentlichen Baumgrenze von 1800m. In einem Nebensatz erwähnte Rati, dass er sich die Fahrt selbst nicht zutraue und deshalb sein Cousin als Fahrer mitkäme. „Er schraubt gerne an Autos und so“, qualifizierte ihn Rati. Zu diesem Zeitpunkt drängte sich in mir eine Frage auf, wie ein Promoter, der mich in der Fußgängerzone von einer Spende für WWF, Amnesty International oder so etwas überzeugen will. In der Ferne spielte ich mit dem Gedanken, doch nun kam der Zeitpunkt zu fragen: Wieso machst du das? Dich in ein Auto mit einer wildfremden Person zu setzen (die zugegeben eine Affinität für Autoschrauberei vorzuweisen scheint) und diese darüber entscheiden zu lassen, ob ich lebe oder sterbe?

Weithergeholter Gedanke: Was war der Antrieb von Michael Collins, Buzz Aldrin und Neil Armstrong, als sie sich von einer dreitausendtonnenschweren Saturn-V-Rakete in den Weltraum spucken ließen? Technische Wortspiele mal außen vor: die Wissenschaft kommt einem in den Sinn; Ruhm und Ehre waren ihnen sicher. Alles Dinge, die größer sind, als sie selbst. Erkenntnisse, die über die eigene Subjektivität hinausgehen. Erhofften die Astronauten eine intrinsische Eingebung? Etwas über sich und das Leben zu lernen? Dem angelernten militärischem Pragmatismus nach, könnte eine Begründung lauten: Es war ihr Job. Sie wollten die Karriereleiter hinauf, haben die schnellsten Jets dieser Erde bereits getestet – was kommt noch danach? Dreitausend Gründe sprechen für dieses Argument. Andererseits, das sei an dieser Stelle unterstrichen, verändert solch ein Erlebnis einen Menschen. Der Blick auf die kleine Erde aus der Thermosphäre (der Distanzraum, in dem die ISS die Erde umkreist) bleibt vielen Astronauten und Astronautinnen in Erinnerung. Die eigene Unbedeutsamkeit. Nun gut, alles Vermutung. Vielleicht auch ein schiefer Vergleich. Eine risikobezogene Variable vielleicht noch hinterhergeschoben, um einen Querverweis zu rechtfertigen: Bis zum Punkt des Abflugs der Apollo 11 Mission im Jahr 1969, starben bei Unfällen bemannter Raumfahrt sechs Menschen. Im Jahr unserer Reise, innerhalb von fünf Wochen, in denen die Straße befahrbar war, ließen auf dem Abano-Pass mindestens dreizehn Menschen ihr Leben.

Interlude

Tag der Abreise. 9 Uhr morgens, die Sonne lag schwer über Tbilissi. Wir warteten vor unserem Hotel auf Rati und seinen Cousin. Ich bin nervös, kaufe mir Zigaretten um die Ecke (Malboro Light). Als ich zurückkehrte sah ich Rati vor einem dunkelblauen Nissan 4×4 stehen. Ein bilderbuchmäßiger Geländewagen mit dicken, schwulstigen Offroadreifen. Auf dem Dach war eine Konstruktion aus Aluminiumstangen befestigt, die das Autodach rechteckig umrahmte. Oben untergebracht: Wasserkanister, Zelte in blauen Folien, Tische und Stühle. Im Auto saß rauchend Ratis Cousin Levan*. Er trägt eine Fliegerbrille, die sein graues Haar betonen. Militärhose mit Camouflagemuster und ein dunkelblaues T-Shirt vollenden das Bild. Das ist er also, der Mann, der unsere Mondlandung vollziehen soll. Und ich sah nicht mal seine Augen.

Das Benutzen der Lichthupe schien ein ähnlicher Nationalsport zu sein wie Rugby. Der ölige Duft von Abgasen wehte durch die offenen Fenster in unseren Nissan 4×4 und lag bedrückend in der Lunge. Zweispurige Fahrbahnen werden wie drei- oder vierspurige behandelt, zumindest kam es mir so vor. Wir befanden uns auf dem Weg Richtung Telawi, der letzten Stadt vor dem Abano-Pass. Alexander der Große soll einmal gesagt haben, dass der gesamte Westen unter seiner Macht stehe. Die imaginäre Grenze zwischen West und Ost verläuft durch Telawi, so unser Guide. Auf der Fahrt kam es mir so vor, als wenn den Abano-Pass zu überqueren etwas ziemliches Georgisches sein müsse. Der einzige Unterschied wäre, dass es auf der Überfahrt nicht egal ist, seinen Gurt zu tragen – er darf nicht benutzt werden. Im Falle, dass „etwas passiert“.  Wir fuhren dicht auf einen alten Laster auf, der metallisch-rostige Zäune und dünne Stahlpfeiler mit klobigen Standfüßen transportierte. Aus Höflichkeit überholte unser Fahrer den großen, grünen Lastkraftwagen nicht in der Kurve. Wir warteten, bis wir auf eine hügelige Gerade auffuhren und beschleunigten aus der Wegbiegung hinaus. Am Ende des Hügels, in dreihundert Metern Entfernung, war ein Auto zu sehen. Wir bremsten nicht ab, wir beschleunigten noch drastischer, nachdem Levan für einen kurzen Moment zweifelnd den Fuß vom Gaspedal nahm. Der Wagen gegenüber, ein dunkelgrauer Mercedes C130 ging in die Eisen und betätigte die Lichthupe zwei Mal. Wir zogen mit 130 km/h am Lastwagen vorbei; der Guide und sein Cousin hielten während des gesamten Manövers einen Arm aus dem Fenster. Wir durchquerten Kachetien, das größte Talgebiet Georgiens, eine Weinregion. Die Straßen wurden schlechter, wir sahen Autofriedhöfe und Männer, die am Straßenrand die Hände in die Hüften stemmten.

Schon die kurze Fahrt entfremdete mich von meinem Lebensgefühl. Ich erfuhr mich nicht länger als jemanden, der durch seine Augen blickte, sondern als ein Schatten, der durch den Rückspiegel auf seinen Körper starrt. Ein Stück Fleisch auf dem Rücksitz eines Nissan 4×4 Offroadwagens. Passiver Beobachter auf der Fahrt seines eigenen Lebens. Im Kopf verhandelte ich: Noch kann ich abbrechen. Andere Berge bieten auch schöne Panoramen. Ich bin eigentlich nicht der Typ für Höhen. Und so weiter. Ich frage mich wieder: Warum? Nicht die Natur, die Unberührtheit der Wälder, die stoischen Kaukasischen Berge ziehen mich nach Tuschetien, dachte ich. Es ist die Erfahrung. „Aber aus welchem Grund muss es ausgerechnet diese Erfahrung sein?“, stand vor meinem inneren Auge geschrieben. Viele Menschen, die sich freiwillig in Extremsituation bringen (Richtung Erde stürzen, zu schnell im Kreis fahren, etc.) berichten, dass sie sich „lebendig“ fühlen. Was soll das bedeuten? Wenn sich „lebendig“ fühlen heißen solle, eine weltfremde Apathie zu empfinden, hätte ich in jenem Moment mit einem ironischen Lächeln freudig zugestimmt. Dazu servierte Empfindung: Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Leben. Nicht nur gegenüber meinem Leben. Diese Fahrt war ein Affront gegen jegliche Lebensart, eine Höllenfahrt – aus Spaß.

Ich bin der Überzeugung, dass Menschen spüren, wenn sie sich in einer entfremdenden Umgebung befinden: in sterilen Wartesälen von Krankenhäusern, am Schalter der Polizeizentrale, auf der Couch einer Dorfdiskothek – morgens um halb drei. Ich stelle mir vor, dass für die Astronauten der Gemini- und später der Apollomission dieser Ort die Humanzentrifuge gewesen sein muss. Eine stählerne Konstruktion, ähnlich dem Führungsarm eines Krans, die in einem gewaltigen Raum auf dem Boden montiert ist. Am Ende des Arms ist eine kleine Kabine mit einem darin montierten, desinfizierten Sitz. Der Stahlarm wird beschleunigt, während sich eine Person auf dem kalten Stuhl in der Kabine befindet und weil er sich kreisförmig um die eigene Achse dreht, wirkt eine erdrückende Zentrifugalkraft auf die Astronautenanwärtende. So wird innerhalb dieser Umgebung trainiert (etwa mithilfe von Atemtechniken), bei hoher körperlicher Belastung nicht in Ohnmacht zu fallen. Spätestens im Moment, als sich das Gehirn durch die entstandenen Kräfte gegen das Scheitelbein presst und die Gliedmaßen in den Sitz gedrückt werden, müsste Michael Collins oder Buzz Aldrin oder sogar Armstrong gefragt haben: Wieso? Oder: Was macht meine Familie, wenn ich sterben sollte? Oder: Ist Fliegen wirklich das beste Gefühl der Welt, ist es wertvoller als das Leben?

Bridge

Telawi ist eine wuselige Kleinstadt mit zwanzigtausend Einwohnern. Eine Universitätsstadt, der georgische Nationaldichter Schota Rustaweli soll im zwölften Jahrhundert hier studiert haben. Wir parkten unseren Nissan 4×4 auf einem sandigen Parkplatz, um noch ein paar letzte Erledigungen zu machen: Obst, Gemüse, Alkohol. Sonnenschutz, falls nötig. Ich kaufte eine dunkelblaue Kappe für zehn Lari, umgerechnet drei Euro. Nach einer kurzen Zeit kam Rati mit fetten, dunkelgrünen Melonen wieder. Levan hatte noch andere Dinge zu kaufen: „Kann man sagen, Levan mag gerne Bier.“, erklärte Rati. Kein angenehmer Gedanke, dachte ich, dass ausgerechnet unser Fahrer eine Vorliebe für dieses Getränk pflegt. Kurz darauf saßen wir wieder im Geländewagen, um die eigentliche Reise zu beginnen. Vorher machte unser Guide allerdings jedem noch ein Kühles auf. Es war 11:30, und ich konnte die Beruhigung gut gebrauchen.

Voller Adrenalin klemmte ich mich auf meinen Rücksitz. Die Straßen wurden schmaler und die Berge kamen immer näher. Es konnte nicht mehr lange sein, bis der Aufstieg begann. „Wir gehen noch kurz zur Kirche, sehr schön“, sagte Rati. Verwirrt schaute ich ihn an und antwortete nichts.

Das Alawerdi-Kloster umschließt den drittgrößten Dom Georgiens. Umgeben von trockenen Weinreben, fügt sich die Kirche mit ihrem sandgrauen Gestein in das Bergpanorama ein. Der Himmel war klar, die Sonne erhitzte das Tal auf über dreißig Grad Celsius. „Lass‘ uns eine Kerze anzünden“, sagte Rati auf dem Weg zum Eingangsportal. Im Klostershop kaufte er kurzerhand ein paar dünne, weiße Opferkerzen und drückte mir eine in die Hand. Es war der Todestag der heiligen Maria, das Kloster war gut besucht. In Georgien wird allerdings vom Schlafenstag gesprochen, warum genau konnte ich allerdings nicht herausfinden. Besonders an einem orthodoxen Kloster ist die Musik. Chorale Klänge begleiten uns, als wir an den Gemälden der verschiedenen Heiligen entlangschritten. Jedes Gemälde mit einem eigenen Kerzenständer, die mit grauem Sand gefüllt waren. Aus Ratlosigkeit stellte ich mich vor die heilige Maria. Ich bin Agnostiker, doch zündete die Kerze trotzdem vorschriftsgemäß an und blieb mit gesenktem Kopf vor der Heiligen stehen. Ein Gebet fiel mir nicht ein. Der gesamte Besuch weckte in mir weniger Frieden, als vielmehr Zweifel. Unser Fahrer vermittelte weniger den Eindruck eines stillen Gebets, als mehr eine schnelle Bitte für das Überleben der nächsten Stunden.

„Zwölf, elf, zehn, neun, Zündungssequenz eingeleitet“, kündigt die Missioncontrol den Start einer Rakete an. Im Cockpit ist anschließend nichts mehr zu hören. Die Bauteile der Steuerkabine klappern, die Stühle wackeln, der Puls steigt. Während im Rücken der Raumfahrenden innerhalb der ersten zweieinhalb Minuten des Starts zweitausend Tonnen spezialisierter Treibstoff (RP – Rocket Propellant) verbrannt werden, ist genügend Zeit an den eigenen Entscheidungen zu zweifeln. Insbesondere weil der Ausgang des eigenen Lebens plötzlich außerhalb der subjektiven Entscheidungsgewalt liegt. Das Fortbestehen des Herzschlags, so unwichtig er vielleicht ist, hängt nunmehr an Klebstoffen, Kreuzschlitzschrauben, Flugbahnmodellen, Mikrochips sowie Entscheidungen anderer, mit ebenjenen technischen Komponenten umzugehen. Was wiederum dadurch beeinflusst wird, wie andere Menschen auf entsprechende Entscheidungstragende eingewirkt haben. Wie viele Variablen kann ein Vertrauen aushalten? Es ist zu einfach zu Zweifeln, als dass in dieser Situation vollkommene Selbstsicherheit bestünde. Vermutlich war diese zweieinhalbminütige Startsequenz der Apollo-11-Rakete die längsten zweieinhalb Minuten im Leben ihrer Insassen. Gefolgt von der größten Erleichterung derselben.

Chorus

Originalnotiz: „Falls ich überlebe, kann ich das Komma in der Überschrift durch ein Semikolon ersetzen.“ Dieser manische Gedankenfetzen stammt von der Ankunft am Fuß des Passes. Fast feierlich drehte sich Rati von seinem Vordersitz nach hinten um, blickte uns durch seine schwarze Sonnenbrille hindurch an. Er gab zu: „Kann man sagen, ist ein guter Zeitpunkt sich abzuschnallen.“ Die Straße war jetzt ein sandiger Schleichpfad, gespickt mit speckigen, grauen Steinbrocken. Unser Aufstieg beginnt bei vierhundert Höhenmetern, auf circa dreitausend Meter werden wir den Pass überquert haben. Rati und Levan wirkten angespannt, als unser Guide zwei Bier ergriff. Weil er Probleme hatte, die Kronkorken von den Flaschen zu lösen, war Levan ihm behilflich. Die linke Hand hielt weiterhin das Lenkrad fest im Griff, die rechte Hand öffnete die Bierflaschen, indem sich ein am Mittelfinger positionierter Ring unter den Flaschenhals grub, bis der Kronkorken sich geräuschhaft löste. Lachend warfen sie den Verschluss aus dem offenen Fenster. Ich überlegte Einspruch dagegen zu erheben, dass unser Fahrer vor der wohl gefährlichsten Fahrt meines Lebens einen halben Liter Bier trinkt. Allerdings war ich zu sehr vom Gefühl der Höhenangst vereinnahmt, um mich zu Wort zu melden. Während sich um uns herum ein dichter grün-brauner Laubwald erhob, senkte sich zu unserer rechten der Abgrund. Erst dreißig Meter, dann fünfzig.

Eingenommen von kindlicher Angst, dachte ich über das Wort Ehrfurcht nach. Ich glaube, dass man wirkliche Ehrfurcht nur Naturgewalten gegenüber verspüren kann. „Nichts anderes hinterlässt dich in solcher Angst, alsdass du ihren Ursprung zutiefst respektierst.“, philosophierte ich pathetisch, während ich meine gierig gerauchte Zigarette aus dem Fenster des Nissan 4×4 schnippte. Wovor aber hatte ich Angst? Nicht vor einem Absturz, dem Abgrund, den Bäumen oder Steinen. Ich hatte Angst vor dem Tod, der eigenen nicht-Existenz. Diese Situation hätte Camus wahrscheinlich als absurd beschrieben, widersprüchlich in seiner Entstehung. Einerseits das sabbernde Verlangen nach einzigartigen, fremden, unheimlichen Erfahrungen (die Geißel des Individualismus) und andererseits das kreischende Unbehagen in gefährlichen, also unbekannten oder befremdlichen Ereignisräumen (die Geißel der mitteleuropäisch-weißen Bequemlichkeit).   

Die Unwegigkeit nahm zu. Wo anfangs noch faustdicke Steine den Weg säumten, gruben sich nunmehr sture, dunkelgraue Felsen in den Weg. Wir befanden uns auf ungefähr 1100m Höhe, der Offroadwagen neigte sich immer wieder bedrohlich in Richtung des tödlichen Abgrundes. Ich saß auf der dem Abhang abgewandten Seite und rechnete im Falle eines Unglücks meine Überlebenschancen aus. Falls wir vom drei Meter breiten Pfad abkämen, die Räder keinen Halt mehr finden sollten, tippte ich auf eine Wahrscheinlichkeit von 20:80 für ein Gelingen der Flucht. Autotür auf, entgegen der Fallrichtung, das linke Bein fest auf die Türschwelle und Absprung ins Freie – nicht mehr als 2 Sekunden dürfe es dauern.

Auf 1400m begegnen wir einem kleinen grauen Schild, welches auf georgisch und englisch den Tod von sieben Menschen betrauerte. Nicht mal vier Wochen zuvor, ein LKW, der auf seiner Ladefläche weitere Passagiere beförderte und an dieser Stelle siebenhundert Meter in den Abgrund stürzte, wo der graue Sturzbach mittlerweile am Abgrund als schäumender Fluss erkennbar war. Die Hälfte des Weges war geschafft und Rati kommentierte, dass man sagen könne, die meisten Unfälle entstünden aufgrund von Trunken- oder Unachtsamkeit. Zumindest konnte man von Levan nicht behaupten, er sei unachtsam gewesen.

Serpentinen ballten sich in spitzem Winkel aneinander. Die Steigung war beträchtlich, als uns in der Ferne ein alter, sandig-schwarzer Lastwagen entgegenstrebte. Im selben Moment hatte ich Ehrfurcht für den Fahrer. Daraufhin kam mir die Erkenntnis, dass wir zu einem Wendemanöver ansetzen mussten. Der Weg war durch keine Absperrungen gesichert, neben uns das nichts. Levan legte den Rückwärtsgang ein, alle Personen im Innenraum reckten den Kopf aus den Fenstern, um den Weg zu sichten. Fünfzig Meter rollten wir den engen Schleichpfad zurück, bis wir in einer steilen Kurven, ganz nah am Rand zum stehen kamen. Der ledrige Fahrer mit grauen Haaren, faltigem Gesicht und grauer Schiefermütze bedankte sich mit einem kurzen Hupen.

2600m. Oberhalb der Baumgrenze. Keine Waldlandschaft hindert uns daran in die Tiefe zu starren. Kalter Wind erinnerte uns an die widrigen Bedingungen für jegliche Lebewesen, außer grünem Rasen gab es hier keine Pflanze mehr. Während wir eine geraume Zeit in ängstlicher Stille miteinander schwiegen und irgendwas von Vivaldi hörten, blickten wir erhaben hinunter ins Tal. Rati durchbrach die Stille indem er uns daran erinnerte, dass wir auf der fünftgefährlichsten Straße der Welt seien. Oder sechstgefährlichsten, das müssten wir googeln.

Nach vier Stunden Fahrt thronten wir auf dem Gipfel des Abano-Passes. Wir entschieden uns für eine Pause. Wackelig waberte ich entlang des steinigen Engpasses, als der Wind mich mit seiner Kälte erfrischte. Auf einer verwitterten Gartenbank richten wir unser feierliches Festmahl an. Es gab Schnaps, trockenes braunes Brot, welches in Plastikfolie eingepackt war. Dazu grobe hellrote Wurst vom Schwein. Dicke Brocken Fett klebten warm auf der Zunge, während der starke Alkohol meinen Körper entspannte. Eine Mahlzeit wie die Fahrt. Extatische Energiezufuhr mischt sich mit einem leichten Würgereflex, nachdem ich den zweiten Schnaps hinunterschüttete. Ein Abendmahl am Schlafenstag der heiligen Maria.

2600m, abnehmende Höhe. Jeder hatte einen starken Schnaps, auch Levan. Die Stille, die sich im Auto ausbreitete, ist diesmal keine ängstliche, sondern eine bewusste. Während wir einen massiven Stein tuschierten und der Wagen in Richtung des vierhundertmetertiefen Abhangs strebt, hat keiner mehr Angst. Die Ehrfurcht jedoch bleibt.

Die Mondlandung von Buzz Aldrin und Neil Armstrong bot Material für gleich mehrere ehrwürdige Momente der menschlichen Geschichte: „The Eagle has landed“, „This is a small step for a man – but a giant leap for humanity“ oder „Good luck, Mr. Gorsky“ sollte vielen Menschen in Erinnerung bleiben. Dazu die Liveaufnahmen des Moonwalks, Bilder der US-amerikanischen Flagge neben einem Mann im Astronautenanzug. Die geschichtsträchtigen Geschehnisse vom 21. Juli 1969 überschatteten allerdings den wahrscheinlich eindrucksvollsten Moment dieses Tages und seinen tragischen Helden: Den einsamsten Menschen der Geschichte. Als Aldrin und Armstrong ihren Mondspaziergang vollführten, blieb Michael Collins im nun dekonstruierten Raumschiff zurück, um eine sichere Rückkopplung der beiden Kameraden zu gewährleisten. Dabei umkreiste Collins weiterhin den Mond. Auf seiner Umlaufbahn passierte das Apollo-11 Raumschiff die Rückseite des Mondes, wo keine Kommunikation mit der Erde oder anderen Menschen möglich war. Für knapp eine Stunde war Michael Collins der einsamste Mann der Geschichte. Eingeschlossen in einem Teflongefängnis, 385.000km entfernt von der Erde, nur Collins und seine Gedanken. Und Kleber, Kreuzschlitzschrauben, Flugbahnmodelle und Mikrochips. Keiner würde Collins‘ Namen kennen, auch wissenschaftliche Experimente würden seine Kollegen durchführen. Und gleichzeitig konnte der im Raumschiff zurückgebliebene Astronaut die wertvollste Erfahrung machen, wertvoller als jedes Foto von sich auf einem kalten Himmelskörper neben einer Nationalflagge. Michael Collins konnte sich seiner eigenen Absurdität vergewissern. Eingeschlossen im luftleeren Raum. Zwischen Kleber, Schrauben, und so weiter. Verpflichtet den großen Helden die Tür nach Hause zu öffnen. Im Schatten verschwinden, während Geschichte geschrieben wird.

Postlude

Was Präsident John F. Kennedy während seiner berühmten Rede in Houston 1962 sagte, hebt die allgemeine Absurdität von Erfahrungen besonders hervor: „Warum zum Mond fliegen? Warum den höchsten Berg besteigen?“, fragte der Demokrat. „Wir entscheiden uns zum Mond zu fliegen und andere Dinge zu tun, nicht weil sie leicht sind, sondern weil sie schwer sind.“, hallte es in die Katakomben des Rice-Stadiums. Keine Gemütlichkeit ohne Gefahr, keine Erkenntnis ohne Kosten. Keine sinnbehaftete Erfahrung ohne sinnentbehrende Entfremdung. Betrachtet man das Emblem der Apollo-11-Mission, wird diese aberwitzige Symbolik greifbar: Ein angsteinflößender (die Augen!) Weißkopfseeadler, der mit einem Olivenzweig über der Mondoberfläche schwebt. Im Hintergrund: die Erde, als Kontinente sind jedoch nur Nord- und Südamerika zu erkennen. Wie es die Ironie will kam die Idee für das Logo nicht von Aldrin oder Armstrong, sondern vom tragischen Helden der Mission selbst. Diese Geschichte erzählt nur leider nie jemand.

Was bleibt also übrig am Ende des Abano-Passes? Kann man sagen, war meine letzte Fahrt auf dieser Straße. Hat es sich gelohnt? Ja. Habe ich es gehasst? Ja.

*Namen geändert.

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