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Teil 5: Limonadendurst

Mit den Bergen Siegens in meinem Rücken erwarteten mich ein paar Tage wunderbares Flachland. Zum ersten Mal seit meiner Abreise konnte ich das Fahrradfahren an sich genießen. Mir war an beiden Tagen früh bewusst, dass ich meine Tagesziele schneller als erwartet erreichen würde. Also ich gönnte mir einige zusätzlichen Pausen, um die Landschaft zu genießen, Tee zu trinken und ein Buch zu lesen.

Am Abend des zweiten sorgenfreien Tages kam ich in Eberstadt an. Ein kleines Dorf mit einem familiengeführten Hotel, in dem ich die Nacht verbringen sollte. Da die Fahrt des Tages vergleichsweise wenig Energie von mir abverlangte, hatte ich Schwierigkeiten einzuschlafen. Als um drei Uhr Nachts beide Augen immer noch weit offen standen, beschloss ich, eine kleine Nachtfahrt zu unternehmen und schwang mich auf mein Fahrrad. Wenn ich schon dabei bin, dachte ich, kann ich mir auch eine Limonade kaufen. Leider gab es in Eberstadt weder einen Supermarkt noch eine Tankstelle und selbst wenn es der Fall gewesen wäre, war es schwer vorstellbar dass sie um diese Uhrzeit offen sein würden. Ich studierte mit meinem Handy also die Gegend um Eberstadt herum und fand drei Kilometer weiter eine Tankstelle, die noch geöffnet sein sollte. Ich trat in die Pedale und fuhr los, nur um mich wenige Minuten später vor einer geschlossenen Tankstelle einzufinden. Ohne Hoffnung auf einen gestillten Limonadendurst drehte ich um.

Von Dirndln und Ebern

Ich kam nicht weit bis ich eine junge Frau sah, die ein Dirndl trug und suchend die Straßen entlanglief. Ich nahm an, dass sie wohl aus der Gegend stammen musste und fragte sie, ob es in der Nähe eine Gelegenheit gab, Limonade aufzutreiben. Sie wusste mir leider nicht zu helfen, erweckte jedoch den Anschein als ob sie selbst Hilfe gebrauchen könnte. Das Rätsel um ihr Dirndl löste sich, als sie mir erklärte, dass ihre Freunde sie auf dem örtlichen Oktoberfest haben stehen lassen. Nun suchte sie sich nach einer Bushaltestelle, mit der Hoffnung, dass ein Bus sie bald zu ihrem siebzehn Kilometer weit entfernten Heimatdorf bringen würde. Es fuhr kein Bus und ein Taxi weigerte sie sich zu rufen, auf dem Prinzip bestehend keinen überteuerten Preis von dreißig Euro bezahlen zu wollen, wenn sie in drei Stunden auch zu Fuß Zuhause sein könnte. Eine solide Argumentation, wenn es nicht stockdunkel gewesen wäre.

Die Wege zwischen Dörfern sind selten mit ausreichender Beleuchtung ausgestattet. Teilweise sind sie nur mit offener Straße miteinander verbunden, die eine offensichtliche Gefahr darstellen. Die Waldwege hegen zwar keine Gefahr angefahren zu werden, sind mit zuversichtlichem Gang aber ebenfalls nicht zu durchqueren. Es fiel mir schwer, sie in dieser Situation alleine zu lassen und ich bot ihr an, sie auf dem Gepäckträger meines Fahrrades ein Stück mitzunehmen. Froh darüber den Weg nicht alleine bestehen zu müssen war sie einverstanden, stellte sich als Carolin vor und einige Minuten später fuhren wir einen holprigen Waldweg entlang, der spärlich von meiner Fahrradlampe beleuchtet wurde. Als wir an einem Maisfeld entlang liefen stellte sie sich plötzlich hinter mich und mein Fahrrad. Ich spekulierte, dass sie sich wohl vor angriffslustigen Maisdieben fürchtete, doch ihre Bedenken galt anderen Kreaturen. Wilde Eber, die anhand Carolins Reaktion wohl eine ernstzunehmende Gefahr in dieser Gegend darstellten. Der Kontrast zwischen Stadt- und Dorf Kind zeigte sich mir erneut.

In Eberstadt angekommen schauten wir uns nach einer Haltestelle um, erneut hoffnungsvoll, dass hier bald ein Bus ankommen könnte, der Carolin wenigsten in unmittelbare Nähe ihres Zuhauses bringen würde. Bedauerlicherweise würde so ein Bus erst in fünf Stunden kommen und langsam begann es kalt zu werden. Ich schlug ihr vor, im Hotel zu warten, wo wir ins Gespräch kamen. Ich fragte sie, was sie denn beruflich machen, dass sie einen Weg in völliger Finsternis einem Taxipreis von 30 Euro bevorzugen würde. Carolin sagte mir, dass sie für den Staat arbeite und als ich scherzend fragte ob sie Polizisten sei, nickte sie mit dem Kopf.

Geschichte einer Polizistin

Erneut bestätigte sich mir die Tatsache, dass das Leben ab und zu schräger als Fiktion ist. Es erschien mir plötzlich logisch, dass sie so verbissen auf einem Prinzip behaarte und lieber zu Fuß gehen wollte, als dreißig Euro für ein Taxi auszugeben. Ein Charakterzug, den ich von einer Polizistin erwarten würde, da ich mir nicht vorstellen kann, dass man diesen Beruf nicht ohne eine Gewisse Sturheit machen könnte. Ich fragte sie, warum sie Polizistin geworden ist und sie erzählte mir folgende Geschichte aus ihrer Kindheit: Als sie klein war, versuchte sie an einer Straße ein kleines Kätzchen, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand, mit etwas Essen anzulocken. Als das Kätzchen die Straße überquerte, wurde sie von einem Raser überfahren. Das war für sie der entscheidende Punkt, Menschen die das Gesetz brechen und dabei andere leiden lassen, zur Rechenschaft zu ziehen. So herzzerreißend die Geschichte auch war,  der Skeptiker in mir hatte Schwierigkeiten sie zu glauben. Ich gab mich jedoch meiner naiven Seite hin und ließ die Geschichte stehen wie sie war, ohne weiter zu nach zu stochern. Denn was für eine reine und ehrenvolle Motivation dies ist, Gesetzeshüterin zu werden. Stark im Kontrast, zu den typischen Beweggründen, Polizist zu werden. Denn meist höre ich von Polizisten, dass der Beamtenstatus sie zu dieser Berufswahl reizte.  Und so konnte ich ihr nur das Beste für ihren zukünftigen  Werdegang wünschen.

Schlussendlich nahm sie dann doch ein Taxi, denn mit jeder Minute wog die Müdigkeit immer schwerer und 30 Euro waren kein so großer Preis, um innerhalb einer halben Stunde im eigenen weichen und warmen Bett zu liegen. Ich brachte sie runter, ging wieder hoch in mein Zimmer und legte mich ins Bett. Obwohl ich verdammt müde war, kam ich nicht umhin darüber zu grübeln, was mich in diese Situation gebracht hat. Wie ausschlaggebend ein Limonadendurst in der Entfaltung einer ganzen Ereigniskette sein kann. Und obwohl dieser Tag ohne Limonade zu Ende ging, war ich froh, dass ich mit die Zeit nahm, ein Freund und Helfer für eine Polizistin im Dirndl gewesen zu sein.

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