Die Taube wippt wie immer mit dem Kopf durch die Fußgängerpassagen. Außer dass dort jetzt niemand ist. Keine Menschenseele. Die Straßen leergefegt, kein Essen übriggelassen, welches neben den Mülleimern liegt und nur darauf wartet, von ihr aufgenommen zu werden. Ihre einzigen Hoffnungen: der Taubenschlag am Hauptbahnhof oder in Mümmelmannsberg. Aber nur wenige Tauben finden dort ihr Zuhause. Die Taube ist ein standorttreues Tier. Das bedeutet, dass sie sich in einem Umkreis von gerade einmal 700 Metern bewegt.
Die Taube leidet unter dem Lockdown.
Eigentlich benötigt die Taube rund 40 Gramm einer Mischung von gelben und grünen Erbsen, Gerste, Hirse, Leinsaat, luftgetrocknetem Mais, Raps, Sonnenblumenkerne und Weizen am Tag, um wirklich gut leben zu können. Bereits vor Corona als die Menschen noch in Massen durch die Straßen liefen, war das Dasein der Taube ein Prekäres. Der schlierige, weiße Kot, den sie häufig an Häuserwänden hinterlässt, zollt davon. Denn wenn die Taube ihre ausgewogene Ernährung bekommt, wandelt sich dieser zu einem braunen, festen Klumpen. Entgegen der vielen Vorurteile, die die Taube ertragen muss, schadet ihr Kot den Hauswänden nicht. Trotzdem sieht sie sich Gefahren wie Netzen, spitzen Drähten und Klebestoffen ausgesetzt. Hinter Netzen verirrt sie sich, an Drähten holt sie sich Fleischwunden und der Klebestoff verklebt ihre Flügel, was ihren sicheren Tod bedeutet. Die Menschen probieren sie zu verscheuchen. Dabei waren sie es selbst, die die Tauben in diese Lage brachten.
Die Taube wird als Haustier bis ins 6. Jahrhundert vor Christus zurückverfolgt. Die Domestizierung der Vögel hatte mehrere Gründe. Einer dieser Gründe war, dass die Taube durch ihre Standortstreue immer wieder an den Ort, den sie als ihr Zuhause definiert, zurückkehren würde. Dafür überwindet sie eine Strecke von bis zu 1000 Kilometer. So wurde die Taube zur Brieftaube.
Noch heute gibt es Menschen, die die Tiere züchten, um ihre Leistungen in Wettbewerben unter Beweis zu stellen. Immer wieder passiert es, dass diese Leistung bis auf das Maximum ausgereizt wird und die Taube es nicht schafft sie zu erfüllen. Eine solche Taube strandet des Öfteren in den Großstädten und sucht bei ihren Artgenossinnen Zuflucht. Insbesondere ist dies an Tauben zu erkennen, die auffallendes Gefieder haben. Denn für gewöhnlich schützt sie ihre graue Erscheinung vor Raubvögeln und anderen Fressfeinden. Eine weiße Taube hingegen, ist diesen Gefahren schutzlos ausgeliefert.
„Sie könnten eine Fotoreihe machen: Obdachlose der Stadt. Und auf den Fotos wären sowohl die Menschen als auch die Tauben zu sehen, die hier alle obdachlos sind,“ sagt Beate Bendt, während sie die Treppen zum Taubenschlag im Hauptbahnhof hinaufsteigt. Sie ist eine von vielen, die sich ehrenamtlich für die Tauben Hamburgs einsetzt. Seit 2013 gibt es den Hamburger Stadttauben e.V. Und seit zwei Jahren ist Beate Bendt Mitglied des Vereins. Alles fing damit an, dass sie eine blutende Taube fand. Daraufhin erkundigte sie sich im Internet und stieß auf den Verein. Sie habe schon immer alle Lebewesen respektiert, sagt sie, aber die Tauben wären ihr vorher nie so richtig aufgefallen.
An der Wand hängt ein Bild der Taube „Susi,“ die sie in der Spitalerstraße gefunden und aufgepäppelt hatte. „Das Rathaus bittet mittlerweile darum, keine weißen Tauben mehr bei Hochzeiten fliegen zu lassen,“ erzählt sie. Denn auch diese Tauben würden in der Stadt verloren gehen und durch ihr auffälliges Erscheinungsbild keine großen Überlebenschancen besitzen.
In dem Taubenschlag am Hauptbahnhof kümmert sich jeden Tag ein ehrenamtliches Mitglied um die Tauben. Etwa eineinhalb Stunden dauert es, die Nester zu reinigen, die Futter- und Wasserbehälter aufzufüllen, die geschwächten Tauben in ihren Boxen zu versorgen und den Ort zu reinigen. Jeden Tag geht dabei ein ganzer Sack von 25kg Taubenfutter drauf.
Tauben, die zum Verein gebracht werden, weil sie krank oder geschädigt gefunden wurden, werden zunächst in Pflegestellen des Vereins gesund gepflegt und die aus der Nähe des Hauptbahnhofs stammenden Tiere werden anschließend rund 14 Tage im Schlag in Boxen behalten, damit sie sich an die neue Umgebung gewöhnen und diese als ihr neues Zuhause annehmen. „Nur Tauben,“ sagt Beate Bendt, „die in unmittelbarer Nähe gefunden worden sind, lassen wir auch im Hauptbahnhof wieder frei.“
Die Taube in der Innenstadt spürt etwas an ihrem Bein. Es ist ein Haar – ein menschliches Haar. Sie ist nicht in der Lage dazu, sich selbst von diesem Haar zu befreien. Immer wieder dreht es sich um ihr Bein herum, schnürt es fester zu, bis die Taube ihren Fuß nicht mehr spüren kann. Es wird einige Zeit dauern, aber das Schicksal ihres Fußes ist schon jetzt beschlossen: er wird abfallen. Sie wird noch Tage mit dem abgeschnürten Bein durch die Straßen laufen, bis es sich entzündet und von Keimen und Bakterien befallen wird. Dann wird es letztlich absterben und irgendwo liegen bleiben. Die Taube wird von nun an humpelnd durch die Straßen ziehen und alles aufgrund eines kleinen, unscheinbaren Haares.
Während Beate Bendt mit einem Spachtel den Kot der Tiere aus den Boxen kratzt, erzählt sie, dass der Taubenschlag im Hauptbahnhof von der Deutschen Bahn finanziert wird. „Wir Mitglieder arbeiten ehrenamtlich, aber die Räumlichkeiten und das Futter werden uns hier gestellt,“ ergänzt sie. Alle drei Monate wird der Taubenschlag grundgereinigt und neu eingestreut. „Die Tauben paaren sich bis zu sechs Mal im Jahr,“ erzählt Beate Bendt, „unabhängig davon wie viel Nahrung sie bekommen.“ Das bedeutet, dass wenn die Tauben zu wenig Nahrung finden, bloß mehr Jungtiere verhungern. Deshalb setzt sich der Verein für die Errichtung weiterer Taubenschläge ein, da sie dort artgerecht gefüttert werden können und auch die Population kontrolliert werden kann. Denn Beate Bendt und ihre Kolleg*innen tauschen immer wieder die Eier der Tauben gegen Gips-Eier aus, sodass nicht jedes von ihnen befruchtet und gebrütet wird.
Die Taube, die nun humpelnd durch die Fußgängerpassagen wandert, kann leichter Opfer eines Fressfeindes werden. Oder sie geriet in eine der Vorrichtungen, die die Menschen zur Vertreibung vorgesehen haben. Eine weitere Verletzung und ihr Schicksal ist beschlossen. Dann hätte sie voraussichtlich nicht mehr lange zu leben. Denn wenn auch Tauben als Haustiere bis zu zwanzig Jahre alt werden, so haben sie auf der Straße eine Lebenserwartung von gerade einmal drei Jahren. Einzig und allein der Lebenshof, der ebenfalls vom Hamburger Stadttauben e.V. geführt wird und sich in Steilshoop befindet, könnte ihr Überleben sichern. Dort ist es Martina Born, die sich um die Tauben kümmert. „Aber unser Lebenshof ist bedroht,“ erzählt sie. Der Recyclinghof, der auf der überliegenden Straßenseite liegt, möchte umziehen. Dadurch würde der Lebenshof zur Nichte gemacht werden. Was dann aus den Tauben wird, die Behinderungen haben oder ähnliche Einschränkungen, kann bisher niemand sagen.