Ungefähr 444 Millionen Ergebnisse liefert Google auf diese Frage. Aber wer bin ich wirklich? Diese Frage werde ich nie beantworten können. Dafür braucht es mehr als ein Menschenleben Erfahrung. Vom Versuch, sich selbst besser zu verstehen.
Vor ein paar Tagen habe ich etwas aufgeräumt und bin dabei auch auf meine Zeugnisse aus der Grundschule gestoßen. Es heißt dort, ich sei zwar „außerordentlich interessiert und wissbegierig“, aber nicht wirklich aufmerksam. Ich würde andere während des Unterrichts ablenken, aber auch viel zu einem guten Klassenklima beitragen. Naja, vielleicht gerade deshalb, denke ich und lege die Zeugnisse wieder weg.
Aber was oder wer bin ich? Wer oder was definiert mich? Sind es andere? Bin ich es? Ist es die Musik, die ich höre? Sind es die Bücher, die ich lese? „Zeig mir wie du lebst und ich sag dir wer du bist!“, könnte ein Slogan für das Thema sein.
Ein Persönlichkeitstest, 12 Minuten und 16 Persönlichkeiten
Der folgende Text ist ein Erfahrungsbericht. Du wirst viele „Ichs“ lesen, aber keine Sorge, eigentlich geht es hier um dich. Ich lasse mich auf ein Interview ein. Ein Gespräch mit einem Computer. Aber der Computer ist gar nicht der Protagonist. Es geht nicht um den Computer, sondern um mich. Schon verwirrt? Ich bin es jedenfalls. Wir leben in einer verdrehten Welt.
Es geht hier um „16Personalities“. Die Internetseite bietet einen kostenlosen Persönlichkeitstest an. Die Regeln sind einfach: In knapp 12 Minuten soll ich eine Reihe von Fragen beantworten – ehrlich, unverblümt, ungeschönt. Auch oder gerade dann, wenn die Antworten mir nicht gefallen. Und ich soll mich entscheiden, das heißt, möglichst keine Frage mit „neutral“ beantworten. Auf einer Skala mit sieben Punkten und den Ausprägungen „Stimmt“ und „Stimmt nicht“ kann ich meine Antworten angeben.
Alles nur Idealtypen – Eher Wunschvorstellungen
Ich lese mir vor dem Test die Persönlichkeitstypen der Seite durch und schaue, wer ich sein könnte. 16 Idealtypen sind hier in vier Gruppen aufgelistet. So wirklich persönlich ist das nicht und plastisch sieht auch eher anders aus. Ein Satz pro Rolle als Zusammenfassung. Aber gut, was soll ich auch von dieser Seite erwarten.
Wer könnte ich sein? Debattierer? Ja, könnte passen. Intellektuelle Herausforderungen sind meins. Vielleicht bin ich aber auch nicht intellektuell genug. Was ist überhaupt Intellekt, frage ich mich und schaue weiter. Protagonist? Wäre ich wohl gerne. Vielleicht fessle ich mich aber eher selbst, als dass ich andere fessle. Exekutive? Ja, auch irgendwo. Abenteurer? Klingt gut: Neues erforschen, Künstler sein, flexibel und charmant. Alles Idealtypen, eher Wunschvorstellungen, denke ich und fange mit dem Test an.
“Ich hasse das Vibrationsgeräusch meines Handys und wenn ich meinen Klingelton kennen würde, würde ich den bestimmt auch hassen.”
Ob ich mich Menschen gerne vorstelle oder ob ich mich leicht in Gedanken verliere, wird hier gefragt. Ich stimme zu. Ich lehne ab. Wechselhaft und ohne System oder Reihenfolge, so wie die Regeln des Tests es wollen. Ich finde, es ist schwer, sich zu entscheiden: Schätze ich mich hier selbst ein oder gebe ich an, wie ich gerne sein würde?
Der Test bringt mich dazu, meine Marotten zu erkennen. Ich mag es gar nicht, wenn mein Posteingang unordentlich ist. Mails beantworte ich in der Regel schnell. Ich lerne aber noch mehr, zum Beispiel, dass ich es nicht mag, wenn meine Mails unbeantwortet bleiben. Ich frage mich, ob ich gerade etwas über mich lerne oder ob ich darüber nachdenke, wie andere mich sehen. Ich mache weiter, zumindest versuche ich es.
Ob ich mich leicht ablenken lasse? Ja. Eine Push-Mitteilung auf meinem Handy ist aufgepoppt. Ich hasse das Vibrationsgeräusch meines Handys und wenn ich meinen Klingelton kennen würde, würde ich den bestimmt auch hassen. Flugmodus. Ich mache weiter.
Zwischen Fragen und Infragestellung
„Sie verlieren sich oft so sehr in Gedanken, dass Sie Ihre Umgebung ignorieren oder vergessen.“ Instagram, Instagram, Instagram – oh äh stimmt. Ich wollte ja hier weitermachen. Warum gucke ich nochmal auf mein Handy? Okay, egal.
„Es fällt Ihnen leicht, entspannt und fokussiert zu bleiben, selbst wenn Sie unter ein wenig Druck stehen.“ Haha, denke ich. Nichts ist leichter als das. Dieser Text entsteht einen Tag vor Redaktionsschluss des Magazins.
„Sie fühlen sich anderen Menschen überlegen.“ Puh ähm, ja und nein, denke ich. Schade, dass ich mich entscheiden muss. „Sie sind für gewöhnlich hochmotiviert und voller Energie.“ Also das war nun wirklich noch nie anders. „Es ist Ihnen wichtiger, dass niemand verärgert wird, als dass Sie eine Debatte gewinnen.“ Jetzt verstehe ich so langsam, warum ich die Fragen ehrlich beantworten soll.
Ich bin leicht genervt
Immerhin sieht hier niemand, was genau ich antworte. Uff, 20% geschafft, also vom Quiz. Ich bin mehr so 50% geschafft. Das ist echt anstrengend. „Es macht Ihnen nichts aus, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.“ Ich lasse für einen kurzen Moment mehr Luft aus meiner Nase und verdrehe meine Augen vor mir selbst. Ich sah mich gerade vor mir. Moment, stelle ich mich jetzt schon in meinen Gedanken in den Mittelpunkt? Okay, wow. Ich muss damit aufhören.
„Ihre Arbeitsweise ähnelt eher willkürlichen Energieschüben, als einem methodischen und organisierten Ansatz.“ Schade, dass es über dem großen grünen Punkt mit der Beschriftung „Stimmt“ keine Möglichkeit für „Stimmt wirklich mega krass“ gibt. Oah, 40%. Ich bin leicht genervt.
Der Computer sagt mir, wer ich bin
„Sie verlieren sich selten in Tagträumereien und Gedanken.“ Wusstest du, dass es eine Internetseite gibt, auf der man Lamas zu einem Zoom-Meeting einladen kann? „Wenn jemand nicht schnell auf Ihre E-Mail antwortet, machen Sie sich Sorgen, ob Sie etwas Falsches gesagt haben.“ Liest du Mails vor dem Versenden auch doppelt und schaust dann nochmal im Gesendet-Ordner nach, weil du dir einen Fehler dazu gedacht hast, nur um dann festzustellen, dass die Mail doch richtig ist? Nein? Okay, schade. „Sie verbringen häufig Zeit damit, unrealistische und unpraktische Ideen zu überdenken, die jedoch faszinierend sind.“ Es wäre so krass, wenn… ah ne, weitermachen.
Hui, 60%. Ich bin dem Ziel näher als dem Start. „Sie sind eine relativ ruhige und zurückhaltende Person.“ Ja und Nein. Ich weiß auch nicht, aber ich soll ja nicht die Mitte ankreuzen. Okay ich habe mich entschieden. „Sie machen sich oft Gedanken über den Grund der menschlichen Existenz.“ Die Frage nur mit „Stimmt“ oder „Stimmt nicht“ beantworten zu müssen, ist schon fast Folter. Warum gibt es hier nicht ein Fenster, wo ich einen zehnseitigen Essay einreichen kann? Ach ja, liest niemand, der Computer sagt mir wer ich bin. „Sie sind der Ansicht, dass alle Meinungen respektiert werden sollten, und zwar unabhängig davon, ob diese von Fakten gestützt werden oder nicht.“ Das kostet Überwindung.
Endlich habe ich das Gefühl, verstanden zu werden!
So, 80%. Ich denke: Wuhu Wuhu Wuhu. „Ihr Kopf ist stets voller unerforschter Ideen und Pläne.“ Sowas sollte ich in meine nächste Bewerbung schreiben. „Im Allgemeinen verlassen Sie sich eher auf Ihre Erfahrung als auf Ihre Vorstellungskraft.“ Warum muss sich das denn ausschließen?
Puh, 90%. Die letzten fünf Fragen warten schon. Ich stelle mir vor, der Test ist ein Mensch. Ich spüre den zusammenlaufenden Sabber in seinem Mund. „Sie glauben, dass es lohnenswerter ist, von anderen gemocht zu werden, als einflussreich zu sein.“ Everybody’s Darling eben.
„Sie haben sich schon immer für unkonventionelle und mehrdeutige Dinge interessiert, z. B. was Bücher, Kunst oder Filme angeht.“ Endlich habe ich das Gefühl, verstanden zu werden! „In gesellschaftlichen Situationen ergreifen Sie oft die Initiative.“ Würde ich sonst diesen Text schreiben?
Zwischen Dogmen, Mut, Herz und Intuition
Okay, Ergebnis: ENTJ-A. Ich bin Kommandeur. Fast 80% extrovertiert, eher intuitiv als realistisch, eher Logik als Prinzip, eher planend als suchend, eher durchsetzungsfähig als stürmisch. Damit bin ich ganz zufrieden, obwohl ich denke, dass sich die Dinge nicht immer ausschließen.
Jetzt ein paar Sätze von Steve Jobs, Mitgründer und langjähriger Chef des Technik-Konzerns Apple: Ich solle meine Zeit nicht vergeuden „das Leben anderer zu leben“ und mich nicht von Dogmen einsperren lassen. Ich solle den Mut haben, meinem Herzen und meiner Intuition zu folgen. Alles andere sei zweitrangig.
Die Internetseite sagt mir außerdem, ich sei schon von Geburt an eine Führungspersönlichkeit. Ich würde Charisma und Selbstvertrauen besitzen. Mein absolutes Gegenstück wäre der Protagonist, von dem ich noch am Anfang dachte, dass ich es sein könnte. Ich würde Ziele erreichen, die ich mir selbst gesetzt hätte und die Werkzeuge dafür wären meine Entschlossenheit und mein Verstand. Außerdem gehöre ich wohl zu einer Minderheit, denn ich bin als Kommandeur Teil einer nur dreiprozentigen Gruppe der Menschen.
Ich bin erschöpft
Wer sind berühmte Kommandeure? Der oben erwähnte Steve Jobs. Zugegeben, ich bin Apple-Fan, aber mit Steve Jobs identifizieren? Eher nicht. Gordon Ramsay schockiert mich etwas. Ich dachte eigentlich, dass ich nicht so ein Choleriker wie der TV-Koch sei. Weitere Personen: Margaret Thatcher, Whoopi Goldberg, Malcolm X, die „House of Cards“ Charaktere Francis J. Underwood und Jacqueline A. Sharp oder Raymond Reddington aus „The Blacklist“.
Und was sagt mir das alles jetzt? In erster Linie, dass das „Über sich selbst nachdenken“ erschöpft. Ja, ich bin erschöpft. Es ist nicht leicht tief (oder nur oberflächlich?) in das eigene Ich hineinzuschauen. Der Test sollte eigentlich nur 12 Minuten dauern. Ich habe gehofft, mir ein Stück näher zu kommen und zu erfahren, wer ich bin. Weiß ich das jetzt? Nein, ich bin eher verwirrt. Vertraue ich diesem Test? Nein. Ich habe eher das Gefühl, eine Art Horoskop zu lesen. Vielleicht sagt meine Wahrnehmung über den Test auch mehr über mich aus, als der Test selbst. Und du? Willst du dich jetzt auch testen?
Dieser Text ist bereits in der Printausgabe 01/2020 des FREIHAFENs erschienen.