Mehr als WG-Life

Solidarisches Hofleben am Rande Lüneburgs

Das Eigenheim, ein Traum im Leben meiner Eltern. Darin bin ich als glückliches Dorfkind aufgewachsen. Seitdem habe ich in mehreren Mietobjekten gewohnt – alles total „normal“. Erkennst du dich wieder? Dann schau doch mal, welche Wohnformen eigentlich sonst noch existieren – zum Beispiel solidarische Wohnprojekte.

So geht Wohnen auch

Für meinen Besuch in einem sogenannten Wohnprojekt musste ich gar nicht weit fahren – ein kleines Stück über die südwestlichen Grenzen Lüneburgs hinaus in die Gemeinde Rettmer. Dort liegt an der Hauptstraße das Wohnprojekt Raeume. Sobald ich durch das Eingangstor gehe, fühlt es sich aber direkt wie auf dem Land in meiner Heimat an.
Auf dem Hof wohnen derzeit 23 Erwachsene ab Mitte 20 bis Anfang 40 und sechs Kinder von Null bis neun Jahren in mehreren Wohngemeinschaften. Die größte davon ist das Haupthaus, ein altes Bauernhaus. Das Besondere an dieser Wohngemeinschaft ist jedoch nicht nur die Größe, sondern auch die Organisationsstruktur und das Miteinander.

Die Gründung mit dem Mietshäuser Syndikat

Das Projekt wurde zusammen mit dem Mietshäuser Syndikat gegründet. Dieses setzt sich für „die Entstehung neuer selbstorganisierter Hausprojekte zu unterstützen und politisch durchzusetzen: Menschenwürdiger Wohnraum, das Dach überm Kopf, für alle“ ein. Bereits 1992 wurde dieses Ziel formuliert. Dazu gehört, dass die mit dem Mietshäuser Syndikat gemeinsam erworbenen Immobilien weder Einzelpersonen gehören noch am Immobilienmarkt weiter Raum für Spekulationen und Preissteigerungen lassen.

Bedeutung für das Wohnprojekt in Rettmer

Für den Raeume-Hof bedeutete das konkret, dass sich ein Gründer*innenteam 2015 zusammenschloss und sich des Hofes annahm. Sie gründeten den Verein Raeume e. V., welcher Gesellschafter an der Raeume Hausverwaltungs GmbH wurde. Die andere Gesellschafterin an dieser GmbH ist die Mietshäuser Syndikat GmbH. Beide haben bei Grundsatzentscheidungen genau eine Stimme, können sich also nicht überstimmen.

Warum so kompliziert?

Diese Organisationsstruktur bewirkt, dass selbst wenn die Mieter*innen entscheiden, dass sie das Projekt wieder aufgeben wollen, es nicht an den Markt zurückkommt – ganz wie das Mietshäuser Syndikat es gemäß ihrem Ziel möchte. Andersherum bewirkt dies auch, dass der Hof eben nicht jemand einzelnem gehört, sondern dem Verein. Also denjenigen, die gerade auf dem Hof wohnen. Außerdem lässt das Mietshäuser Syndikat den Bewohner*innen somit die Freiheit bei der sonstigen Hof- und Lebensgestaltung.

Finanzierung des Wohnprojekts

Wie konnten ein paar Menschen diesen Hof finanzieren? Das funktioniert beim Mietshäuser Syndikat vor allem über Direktkredite von Freund*innen und Unterstützer*innen in der Gründungsphase. Diese werden über die Miete der Bewohner*innen über die Jahre abbezahlt. Trotzdem kann eine Person jederzeit wie in einem anderen Mietobjekt ausziehen. Ein Wohnprojekt kann auch scheitern, das passiert aber eher selten.

Zum Thema Urbanisierung

Gehen wir noch einen Schritt zurück. Die Nachricht, dass Wohnraum vor allem in den Städten durch mehr Zuwachs immer knapper wird, ist nicht neu. Damit einher geht ein Anstieg von Wohnimmobilienpreisen in Deutschland allgemein. Auch Lüneburg steht als beliebte junge Stadt im Hamburger Einzugsgebiet vor dieser Herausforderung. Die Argumentation geht so: Es benötigt viele neue Wohneinheiten, etwa 350 im Jahr, um genügend Menschen noch bezahlbaren Wohnraum bieten zu können.
Allerdings sind diese Pläne im wahrsten Sinne auf Sand gebaut. Sand als endliche Ressource wird im derzeitigen Bauboom immer knapper. Gleichzeitig steigt die Anzahl kleiner Haushalte immer weiter, die ihren Platz brauchen.

Was bringen Wohnprojekte?

Auch heute noch wollen viele ihr Einfamilienhaus bauen. Als unabhängiges, eigenes Heim, als Altersvorsorge oder Nachlass für die Kinder. Spätestens jedoch, wenn die Kinder ausgezogen sind, ist so ein Haus doch ganz schön groß.
Mittlerweile habe ich meine drei Interviewpartnerinnen Hannah Feiler, Svenja Huth und Anka Mader auf der Terasse gefunden. Sie sind alle Anfang 30, wohnen seit ein paar Jahren hier und haben Mann, Kinder oder einfach sich selbst mitgebracht.
Das gemeinsame Wohnen war ein Grund für Anka, mit ihrer Familie hierher zu ziehen. Prinzipiell kann sie sich auch vorstellen, wieder aus dem Wohnprojekt auszuziehen, aber erst, wenn die Kinder groß sind. „Im Moment lieben sie das Hofleben. Auf einem eigenen Bauernhof hätte man doch später viel zu viel Platz, den man gar nicht braucht“, meint sie.

Noch mehr gemeinschaftliches Wohnen

In und um Lüneburg gibt es etwa 20 Wohnprojekte, die alle unterschiedlich funktionieren. Den Überblick hat Susanne Puschmann, die diesen Bereich im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt Zukunftsstadt Lüneburg betreut. Die Architektin vernetzt und berät Menschen, die sich für das Leben in Wohnprojekten interessieren. Sie sieht nur Vorteile in diesen Vorhaben: „Wir werden es uns ökologisch nicht leisten können, auch in Zukunft alle ein Einfamilienhaus zu bauen. Dabei bewirken Wohnprojekte genau das Gegenteil von dem, wovor sich viele fürchten: weniger Vereinsamung, keine unerwarteten Mieterhöhungen und gleichzeitig eine ressourcenschonende Lebensweise.“ Außerdem kann durch die gemeinsam genutzte Wohnfläche schlicht Platz pro Kopf gespart werden. Vor allem im ländlichen Raum könnten Wohnprojekte und somit mehr Lebensqualität dem Zuzug in die Städte entgegenwirken.

Das Leben auf dem Raeume-Hof: solidarisch, …

Die drei jungen Frauen erzählen mir auf unserem Hofrundgang, wie das Leben hier organisiert ist.
In den einzelnen Wohngemeinschaften bzw. der großen WG im Haupthaus hat jede Person ihren eigenen Rückzugsort. Das gilt ebenso für die Bewohner*innen der Bauwägen. Zwei Küchen und drei Bäder werden sich mit allen geteilt.
Entscheidungen, die über das eigene Leben hinausgehen und alle Hofbewohner*innen betrifft, besprechen alle gemeinsam in den alle zwei Monate stattfindenden Plena. Jede*r kann die anderen dort aufklären, wie es der Person gerade geht und womit sie sich gerade beschäftigt. Außerdem gibt es jeden Monat ein Projektwochenende. Dort werden gemeinsame Aktionen wie Gartenumgrabungen, Aufräumarbeiten oder Spiele angegangen. Bei den Bieterrunden jedes halbe Jahr wird neu entschieden, wer wie viel Miete zahlen kann.

… mit gemeinsamen Werten, Engagement…

Solidarität und Respekt sowie Offenheit gegenüber allen werden hier großgeschrieben und auch erwartet. Erwartet wird außerdem, dass sich jede Person in mindestens einer Hof-AG engagiert. Beispielsweise gibt es eine Finanz-AG, die sich um die finanzielle Verwaltung kümmert. Die Gebäudemanagement-AG behält die Untervermietung von Stellplätzen und der Holzwerkstatt für eine Zimmerei im Blick. Hannah, Svenja und Anka sind unter anderem in der AG für Öffentlichkeitsarbeit tätig. „Die Tätigkeit in den AG ist einfach learning by doing. Es gibt keine Voraussetzungen, um hier wohnen zu können, außer die Bereitschaft, sich einzubringen“, sagt Svenja.

… und ökologisch

An einem mangelt es auf dem Hof nicht: Platz. „Das große Gelände bedeutet, dass man im Garten schnell in der Natur, aber auch immer in Gesellschaft ist, wenn man das möchte und braucht“, sagt Hannah. Gerade während der Pandemie schätzen die drei diesen Umstand sehr. Das betrifft auch die unterschiedlichen Facetten des Familienlebens. „Ich kann mich in einigen Situationen zum Beispiel mal mit anderen Erwachsenen über die Kinder aufregen, ohne das Haus zu verlassen“, grinst Anka.
Platz bedeutet allerdings Ressourcenverbrauch. Im Statut, das jede Person zur Kenntnis nehmen muss, die neu in das Projekt zieht, ist auch eine möglichst ökologische Lebensweise festgehalten. „Wir haben zwar alle eine grundsätzlich gemeinsame Einstellung, aber trotzdem gibt es Unterschiede in der Auslegung einer nachhaltigen Lebensweise“, sagt Maria*. Ich treffe sie in einer versteckten Ecke des Hofes beim Unistoff-Vorbereiten mit einer Freundin.

Finanzen auf dem Hof

Diese unterschiedlichen Interpretationen sind auch ein Grund dafür, dass alle Bewohner*innen immer noch ihr eigenes Vermögen haben und verwalten. In anderen Wohnprojekten teilen sich die Bewohner*innen manchmal auch ihr Geld. Im Raeume werden alle Einkäufe aus einer Gemeinschaftskasse bezahlt. Alle zwei bis drei Monate fährt ein großer LKW mit Lebensmitteln vor. Diese Einkäufe werden direkt beim Großhandel getätigt, um Zwischenhändler*innen zu überspringen und somit Lieferwege zu sparen. Bei einem so großen Haushalt lohnt sich das auch.

Zuwachs im Raeume

Und der wird sich sogar noch mehr vergrößern: „Manchmal ist es aber doch zu wuselig“, sagt Hannah. Sie möchte daher aus dem Haupthaus in eine kleinere WG ziehen, sobald die ehemaligen Stallanlagen bezugsfertig sind. Das Raeume bekommt ab August nämlich eine Menge Zuwachs – die Anzahl der Hofbewohner*innen soll sich ab da verdoppeln. Dann wird die Verwaltung wieder in kleinere Einheiten aufgeteilt. „So können in Zukunft Entscheidungen wieder auf kürzerem Weg getroffen werden, das wird doch einige mühsame Diskussionen ersparen“, vermutet Anka.

Utopisch?

Eine steigende Nachfrage nach Wohnprojekten kann Susanne Puschmann vom erwähnten Realexperiment Zukunftsstadt Lüneburg beobachten. „Viele Projekte bieten auch Feste an, die für Interessierte offenstehen. Das hat dann gleich eine positive Wirkung auf die Nachbarschaft.“ Diese Erfahrung haben auch die Bewohner*innen vom Raeume-Projekt schon gemacht. Neben der Begeisterung und dem Interesse bekommt Anka aber noch mehr mit. „,Also ich kann mir das ja nicht vorstellen‘, höre ich sehr oft zum Beispiel im Kindergarten, wenn ich erzähle, wie ich wohne“, sagt sie. Natürlich sei es viel Arbeit und Aufwand, die in das Wohnprojekt gesteckt werden, meinen auch Hannah und Svenja. Maria ergänzt, dass sich diese Arbeit für die Gemeinschaft aber immer wieder auszahle.
Für sie alle kommt das Leben auf dem Hof einer Utopie immerhin am nächsten. Für die Gesellschaft, die Umwelt und das Individuum sei diese Wohnform laut Maria die beste. Ganz klar ist im Statut auch eine politische Haltung zu erkennen, mit der sich einige Bewohner*innen mehr oder weniger identifizieren.

Eine Frage der Perspektive

Teilweise herrsche noch eine verzerrte Sicht auf diese Art zu wohnen, bemerkt Anka. „Einige sind schon überrascht, dass wir nicht den ganzen Tag nackt über den Hof rennen oder mit jedem in die Kiste springen.“
Diese Vorstellung ist vielleicht tatsächlich utopisch – je nach Ort und Belieben. Wohnprojekte scheinen ihren Weg in die Realität jedenfalls mehr und mehr zu finden.

*Name auf Wunsch geändert.

Noch nicht genug gehabt von utopischen Ideen? Hier geht es zur Themenreihe!

Bilder mit freundlicher Genehmigung von Luisa Gohlke und Raeume e. V.
Luisa Gohlke Verfasst von:

Leidenschaftliche Medienmacherin und neugierig auf alles, was die Welt bereithält.