Leben in Zeiten des Krieges- eine Innenperspektive

In Anbetracht des Angriffskriegs auf die Ukraine kommt vielen Deutschen das Gefühl von Frieden und Sicherheit immer fragiler vor.

Doch wie ist es, selbst in einem Land der Instabilität und Diktatur zu leben? Malik (Name geändert) ist in Syrien geboren und aufgewachsen. Er gibt Antworten auf diese und weitere Fragen. Was schon viel über die Situation in Syrien verrät: er möchte seine wahre Identität aus Angst nicht preisgeben. Er befürchtet, seine Eltern könnten sonst in Gefahr geraten. Sein echter Name ist der Redaktion bekannt.

Hallo Malik, stell dich bitte kurz vor. Wie bist du von Syrien nach Deutschland gekommen?

Ich möchte betonen, dass ich anders als die meisten Syrer*innen nicht aus Syrien geflohen bin, sondern eher der Arbeit wegen zunächst in die USA ausgewandert bin. Daher konnte ich dort über den gewöhnlichen Arbeitsweg einer Green Card einreisen. Nach einigen Jahren bin ich dann mit einer Blue Card befähigt gewesen, nach Deutschland zu kommen. Ganz legal. Das ist eine ganz andere Lebensrealität als die meiner Mitbürger*innen ohne Asylstatus.

Du bist ja in Zeiten des Krieges und der Instabilität eines Regimes aufgewachsen. Waren du oder deine Familie direkt von diesen Umständen betroffen?

Weil ich in der Hauptstadt wohnte, hatte ich stets mehr Möglichkeiten als der Rest Syriens. Damaskus wird von der Regierung stark beschützt und kontrolliert. Die Polizei, der Präsident Bashar al-Assad und das Militär wollten natürlich nicht, dass das von ihnen kontrollierte Gebiet während des Aufstandes und dem anschließenden Bürgerkrieg zerbombt wird. Ich konnte nicht weit von meinem Zuhause oft Rauch und Bomben sehen, hatte aber dennoch das Privileg, zwischen Sushi und italienischem Abendessen zu wählen. Andere verhungerten außerhalb der Kontrollzone des Regimes, weil sie nicht einmal Brot hatten.

Gibt es dann überhaupt noch ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in Syrien, wenn sie solch konträre Lebensrealitäten bewältigen? Was für ein Gefühl entsteht bei den Menschen aus Nicht-Regierungsgebieten, wenn ihnen die Wasserstationen von Assad1 zerbombt werden?

Nach meiner Wahrnehmung gibt es tatsächlich keinen direkten Konflikt zwischen den Zivilist*innen aus den verschiedenen Gebieten. Möglicher Hass richtet sich wenn dann gegen die Regierung, wenn du kein Wasser mehr hast. Ich persönlich lebe mit einem Dilemma: einerseits bin ich dankbar für die mir zur Verfügung stehenden Privilegien in dem Kontrollgebiet der Regierung, andererseits muss ich stillschweigend alle Geschehnisse hinnehmen. Wer protestiert oder Einwände hat, landet im Knast. In anderen Gebieten müssen sich die Syrer*innen eben der Ideologie des „IS“ oder Al-Qaidas unterwerfen, was auch nicht besser ist. Deshalb sind die Lebensrealitäten von uns nicht so unterschiedlich, weil wir alle immer in Angst leben.  

 “Ich konnte nicht weit von meinem Zuhause oft Rauch und Bomben sehen[…]

Werden wir konkret: wovor musst(est) du in deinem Alltag Angst haben?

Vor der Korruption!! Aus Angst, die eigene Existenz zu gefährden, muss man sich in allen Angelegenheiten des Lebens dem Regime zugehörig zeigen. Das beginnt in ganz kleinen Dingen wie in der Liebe zu einem Mädchen als Teenager. So absurd es klingen mag, der Junge A mit dem größeren politischen Einfluss bekommt das Mädchen. Wenn Junge B ohne Verbindungen zu politischen Entscheidungsträgern zu weit geht oder dem Jungen A gar das Mädchen wegschnappt, kann sein Leben zur Hölle gemacht werden. Ich habe sowas an meiner Schule mitbekommen. Letztlich stehen einer selektierten Gruppe bestimmte Ressourcen zu, mit welchen sie sich über die normale Bevölkerung erheben können. Für Junge B kann das unter anderem eine Schulsuspendierung oder Kündigung des Arbeitsplatzes seiner Eltern bedeuten.

„Egal wo in Syrien, alles andere als die Norm ist tabu.“ 

Auch wenn du nicht in direkten Konflikt mit dem Regime gekommen bist: konntest du dich ohne Hemmnisse frei entfalten oder musstest du dich auch auf persönlicher Ebene einer Norm fügen?

Egal wo in Syrien, alles andere als die Norm ist tabu. Das gilt besonders für die Sexualität und die Rollenbilder. Wenn sogar in einem stabilem System wie den Vereingten Arabischen Emiraten Homosexualität ein Tabu ist, dann kann man sich vorstellen, wie es in einem chaotischen Land wie Syrien aussieht. Mir persönlich fiel es lange nicht allzu schwer, mit meiner Identität klar zu kommen. Ich konnte nämlich als bisexuelle Person stets die eine Seite meiner Realität zeigen und schien demnach sehr gesellschaftskonform.

Wenn du von dem einen richtigen Leben sprichst, das die Norm vorgibt, meinst du dann auch den Islam als Norm? 

Ja, definitv. Unter anderem sind es Heirat und Erbe, die maßgeblich nach islamischem Recht geregelt werden. Trotzdem habe ich muslimische wie auch christliche Freunde. Weil ich selbst atheistisch bin, duldete meine Familie, dass ich den Islam nicht direkt praktiziere. Ich dürfte aber kein Alkohol trinken oder gar behaupten, ich sei Atheist. Das wäre eine Schande.

Erkennst du für Syrer*innen Bedeutungsunterschiede des Islams zu Zeiten des Krieges?

Irgendwie scheint die Situation paradox. Einerseits herrscht durch den Krieg in Syrien eine größere Sinnfindung durch die Religion, doch andererseits frustrieren einen die schlechten Lebensumstände. Dafür zieht man dann Gott als Sündenbock heran.

Lass uns zum Schluss einmal die schönen Seiten deiner Heimat betrachten. Du kennst mittlerweile beide Kulturen: was gibt es in Syrien, das in Deutschland fehlt?

Da fallen mir direkt zwei Dinge ein. Zum einen definitiv das Essen, das einfach wunderbar ist. Zum anderen herrscht ein starkes Gemeinschaftsgefühl; trotz oder vielleicht wegen der Hilflosigkeit in dem Krieg. Familie, Nachbar*innen und nähere Bekannte stehen sich sehr nah, weil man ihnen vertrauen kann. Ich weiß, ich werde in einem anderen Haus immer willkommen geheißen.

Danke Malik!

Bild mit freundlicher Genehmigung von Jasmin Baghiana
Jasmin Baghiana Verfasst von: