Soziale Distanzierung

In Zeiten der Krise rücken alle näher zusammen. In der Nachbarschaft werden Zettel an Hauseingänge geheftet, um Risikogruppen den Weg zum Supermarkt abzunehmen. Geld wird gespendet, Kunstschaffende bieten ihre Werke in Livestreams umsonst an. Auf Balkons wird zusammen gesungen. Wenn ich noch eine Solidaritätsbekundung hören muss, ziehe ich mir die Fingernägel mit einer Greifzange ab.

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, alle sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Einkaufen – okay, Steuererklärung machen – okay, Partys veranstalten – nicht okay. Im Café ein Heißgetränk zu sich nehmen – Grauzone. Der Handschlag wird bis auf weiteres ausgesetzt. Miteinander sprechen bitte nur, wenn es sein muss und mit einem Mindestabstand von 1,50m. Das beschreibt einerseits das Verhältnis des Thüringer Ministerpräsidenten mit der AfD und andererseits die sogenannte soziale Distanzierung.

Die soziale Distanzierung ist der Krisenzustand des Alltaglebens. Die Öffentlichkeit ist nicht mehr öffentlich und die eingeübte Routine der Welt wird durch das Coronavirus unterbrochen. Jetzt sitzen wir da, in unseren Zimmern oder auf den Balkonen und müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren. Die Familie, die Lebensabschnittsgefährten, uns selbst. Die Alten, die Kinder, die Arbeitssuchenden, die Selbstständigen, die Menschen mit strukturerhaltenden Jobs. Ihnen allen drücken wir unsere tiefe Verbundenheit und Fürsorge aus. Und das ist alles was zählt – die Gemeinschaft. Wir lieben die Gemeinschaft und wir lieben es, das offen kundzutun. Das kann doch nicht unser Ernst sein.

Tränen im Bällebad

Plötzlich ist nichts mehr wie es mal war. Niemand darf mehr angefasst und getroffen werden. Nicht mal der Arbeit wird noch richtig nachgegangen. Während im Homeoffice die Kaffeetasse mit Sekt aufgefüllt wird (ist ja schließlich ein Ausnahmezustand), ist die allgegenwärtige Veränderung richtig zu spüren. Zumindest physisch.

Denn an der sonstigen Distanzierung hat sich nichts verändert. Das macht das Coronavirus deutlich. Auf der ganzen Welt wird hämisch darüber geredet, welche Idioten das Klopapier wegkaufen. Als wären wir alle Zuschauende bei Big Brother. Und wenn man mal darüber nachdenkt, ist genau dies symptomatisch für unsere soziale Distanzierung. Selten konnte so gut beobachtet werden, wie sarkastisch unsere geliebte Gemeinschaft und unsere solidarische Welt sind.

Überall zeigen wir mit dem Finger auf andere, vielleicht auch zu Recht. „Unter mir macht jemand eine Hausparty, was für Trottel“, „Wie kann man so dumm sein und sich chirurgische Masken zum Schutz vor einem Virus kaufen – das bringt doch überhaupt nichts“, „DIE DA NIESSEN NICHT IN DIE ARMBEUGE“. Doch anstatt direkt mit den Betroffenen zu reden, schreiben wir über sie im Internet (diese Ironie), posten Reaktionsvideos und lästern mit Freunden übers Telefon.

Doch wirklich sarkastisch ist, wie sehr noch stärkeres staatliches Eingreifen gefordert wird. Und insbesondere die Freude darüber, wenn es passiert. Staatliches Eingreifen ist in dieser Situation richtig und wichtig, versteht mich nicht falsch. Doch wirklich darüber freuen, kann ich mich nicht. Denn dies ist Ausdruck der Kapitulation gemeinschaftlicher Verantwortung. Ohne staatliches Handeln würden Cafés voll sein, Bundesligaspiele würden veranstaltet werden und niemand würde in die Armbeuge husten. Wir wollen einander vertrauen, doch können es nicht.

Es ist ein bisschen wie im Bällebad, als ich noch klein war. Stundenlang hielt die Begeisterung über das matte Becken an. Gedankenlos zog ich meine Bahnen durch die vermutlich nie desinfizierten Kugeln, warf hier und da mal ein mitspielendes Kind mit einem roten Ball ab und verzog mich anschließend schnell ins bunte Tief. Doch irgendwann war der Spaß vorbei und die Erziehungsberechtigten nahmen mich bei der Hand. Auf dem Weg Richtung Ausgang warf ich noch einmal mit tränenfeuchten Augen einen Blick zurück auf das Paradies. Dabei ist das Paradies in Wirklichkeit nur ein neun Kubikmeter großes Loch, gefüllt mit ein paar farbigen Plastikkugeln aus einem Sweatshop in Vietnam.

To be continued

In einem Podcast habe ich gehört, dass das alles nur der Anfang sei. Bis zum Sommer sollen die Krankheitsfälle dramatisch zunehmen, insbesondere in Ländern, in denen es kein zentraleuropäisches Gesundheitssystem gäbe. Der Virologe Christian Drosten spricht davon, dass wir uns auf Szenen, wie aus einem Spielfilm einstellen könnten und führt nicht weiter aus, was darunter zu verstehen sei. Vermutlich nichts Gutes.

Auch für Menschen, die in strukturerhaltenden Positionen arbeiten und leben, ist das erst der Anfang. Menschen, die sechs Tage in der Woche die Supermarktregale auffüllen, die sich um die Kranken kümmern, die den öffentlichen Verkehr aufrechterhalten. Ihre Wichtigkeit wird ironisch gebrochen, von den Menschen, die sich darum kümmern müssen, dass die Börse nicht zusammenbricht und mit ihnen die Unternehmen, die viele strukturerhaltenden Jobs finanzieren. Grund zur Aufregung gibt es genug. Wir finden uns zu leicht ab. Aber eigentlich ist es auch ganz gemütlich in unserer coronawarmen Sektbude.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Wikicommons
Arne Matzanke Verfasst von:

Habe Politik und Arabistik studiert. Kenne mich weder mit dem Einen noch mit dem Anderen besonders gut aus, allgemein mit allem.