TEIL 2: Die Gesetze des Landes

Paul ist auf Weltreise. Und das mit dem Fahrrad. Welche Gedanken und Motivationen, aber auch Ängste und Zweifel ihn in der Vorbereitung beschäftigten, berichtet er in der neuen Printausgabe 02/2019 des FREIHAFEN. Hier berichtet er nun in unregelmäßigen Abständen, was er auf seiner Reise erlebt.

Mit der Erinnerung des ersten Tages meiner Reise aufgewacht nahm ich an, dass der zweite Tag nur besser werden könnte. Meine Beine waren anderer Meinung, und nach zwanzig Minuten Fahrt machte sich eine andere Annahme breit, die, dass ich heute nicht weit kommen würde. In einem kleinen Dorf setzte ich mich in eine kleine Bäckerei und versuchte, mich mit einem Aprikosenkuchen dieser zerschmetternden Realisation wegen zu beruhigen. Nebenbei schrieb ich mit meiner Schwester, die mir ebenfalls eine Realisation brachte, nämlich die meiner eigenen Idiotie, kein Magnesium eingepackt zu haben. Wir kennen alle die blauen Flaschen, gefüllt mit Grapefruit und Zitronensaft, die ich früher für überzuckerten Schwachsinn hielt. Tatsächlich soll es aber ein fantastisches Mittel gegen Muskelkater sein. Das liegt selbstverständlich nicht am Zucker, sondern am Magnesium, welches diese Iso-Säfte als Zutat beinhalten. Allzu schwer kann es nicht sein, an einem Donnerstag an Magnesium heranzukommen, dachte ich. In den zahlreichen Dörfern rund um Hamburg jedoch wird nach ungewohnten Regeln gespielt.

Ein Frischemarkt zum Beispiel könnte erst um 16 Uhr öffnen – was für mich, der um eins bei der Bäckerei ankam, einen enormen Zeitverlust bedeuten würde –, eine Apotheke, von denen es in der Stadt an jeder Ecke eine gibt, könnte in einem Dorf überhaupt nicht vorhanden sein. Entsetzt stellte ich fest, dass ich an das Landleben nicht gewöhnt war. Ungeübt in der Dorfroutine. Die Einheimischen wüssten Rat, sagte ich mir, und fragte bei der Bäckerin nach, die mir erklärte, dass der nächste Supermarkt in zwölf Kilometern in entgegengesetzter Richtung meiner Route liegt. Ein Supermarkt auf meiner Route sei in 20 Kilometern zu erreichen. Ich machte mir nichts vor und gestand mir selbst, dass 20 Kilometer in meinem Zustand unrealistisch waren. Also fuhr ich in die entgegengesetzte Richtung. Öfter als ich Pausen machte, verfluchte ich diesen Tag. Schleppend erreichte ich jedoch mein Ziel. Wieder wurde ich mit der eigenartigen Realität des Landlebens konfrontiert und stellte die Theorie auf, dass das Fehlen von zahlreichen Supermärkten dazu führte, dass an einem bestimmten Ort ein Super-Supermarkt aus dem Boden wuchs. Denn das, was ich krächzend anfuhr, war in seiner Größe unvergleichbar mit allem, was ich in der Stadt erblicken durfte. Glücklicherweise war mein ersehntes Magnesium nicht weit vom Eingang und ich kaufte mir die am stärksten dosierte Packung Magnesium-Tabletten im Sortiment, dazu zwei Iso-Säfte.

Auf dem Parkplatz riss ich die Packung auseinander und schlang die Tablette,
ohne nachzutrinken, hinunter. Ich begriff schnell, dass Magnesium keine Adrenalinspritze ist und Zeit brauchte, bis es zu wirken anfing. Und zehn zermürbende Kilometer später musste ich feststellen, dass mir Magnesium heute keine wahrzunehmende Hilfe sein würde. Mein Geist schloss sich meinem Körper am Boden an und die Ironie trieb erneut ihr krankes Spiel, es begann zu regnen. Ich entschied, dass ich an diesem Tag genug gelitten hatte und setzte mich auf die Bank einer regengeschützten Haltestelle. An diesem Tag war mein einziges Ziel, in Bremen anzukommen. Dieses Ziel war 20 Kilometer von mir entfernt. Und belehrt von dem strengen Leben auf dem Land nahm ich gar nicht erst an, dass ein Bus bald kommen könnte. In Wahrheit lernte ich scheinbar gar nichts, das Land blieb ein Enigma für mich, denn zehn Minuten später kam nicht nur der unerwartete Bus, sondern einer, der bis zum Bremener Hauptbahnhof fuhr. Die Fügung des Schicksals war nicht zu leugnen und ich stieg ein. In diesem Moment interessierte mich nicht der Fakt, dass ich mein Budget mit dem Kauf einer Fahrkarte belasten würde – wie teuer konnte sie sein? – doch die Lektionen des Landes nahmen an diesem Tag kein Ende und zum Abschied musste ich nicht nur eine Fahrkarte für mich, sondern auch eine für mein Fahrrad kaufen. Gebrochen, jedoch erleichtert ergab ich mich der Situation, kam nach 40 Minuten Fahrt in Bremen an, nahm ein Zimmer in einem Hostel und fiel ins Bett.

Es gibt Lektionen im Leben, die am effektivsten auf die harte Tour gelehrt werden. Mit Körper und Geist verstand ich diese Nacht endlich, dass ein Landei hartgekocht ist.

Bild mit freundlicher Genehmigung von Paul Kuprianow
Paul Kuprianow Verfasst von: